Die Straßenschlacht in London erschüttert einen Stadtteil, der von sozialen Spannungen geprägt ist. Jedes zweite Kind ist arm.  

London - Am Morgen danach sah Tottenham aus wie ein Kriegsgebiet: Auf den Straßen liegen die ausgebrannten Wracks von Polizeiautos, Schaufenster sind eingeschlagen, Geschäfte geplündert, sogar ein Doppeldecker-Bus wurde abgefackelt.

 

Der Stadtteil im Norden Londons war in der Nacht zum Sonntag zum Schauplatz schwerer Ausschreitungen geworden. Mehrere Hundert zumeist jugendliche Randalierer lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Die Bilanz des Krawalls: ein Sachschaden, der in die Millionen geht, und 26 verwundete Polizisten, darunter einer mit ernsten Kopfverletzungen.

Der Protest vor der Polizeiwache wird schnell gewalttätig

Es fing als eine friedliche Demonstration an. Rund 150 Menschen hatten am späten Samstagnachmittag einen Protestmarsch in der Tottenham High Road veranstaltet. Gegen 17 Uhr versammmelten sie sich vor der Polizeiwache. Der Grund ihres Zorns: Mark Duggan, ein 29-jähriger Familienvater, war am Donnerstag von Polizisten erschossen worden. Die Umstände sind noch ungeklärt. Während Polizeiquellen davon sprechen, dass Duggan selbst zuerst geschossen haben soll, wollen das die Demonstranten nicht akzeptieren.

"Der Typ war nicht gewalttätig", behauptet Niki, eine 53-jährige Anwohnerin. "Er war nicht aggressiv und hat niemals jemanden verletzt." Der Protest vor der Polizeiwache wird schnell gewalttätig, nachdem gewaltbereite Jugendliche den Protest für eigene Zwecke nutzen. Vermummte Männer schließen zwei Polizeiautos kurz, parken sie mitten auf der Straße und setzen sie in Brand. Der Startschuss für eine Randale, die schnell außer Kontrolle gerät.

Sogar Häuser und Privatwohnungen werden zum Ziel

Während die Polizisten, die offensichtlich auf die gewalttätigen Proteste nicht vorbereitetet sind, ihre Wache schützen, greifen die Randalierer umliegende Geschäfte an, treten die Fenster ein, plündern die Auslagen und setzen die Gebäude in Brand. Sogar Häuser und Privatwohnungen werden zum Ziel der Plünderer. Bewohner müssen in Schlafanzügen fliehen. Ein naheliegender Supermarkt geht in Flammen auf. Weder Feuerwehr noch Polizei wagen es einzugreifen. Gewalt und Raub greifen auch auf das angrenzende Stadtteil Wood Green über. Noch in den frühen Morgenstunden des Sonntags wurde ein Einkaufszentrum in Tottenham Hale ausgeplündert. Erst am Sonntagvormittag gelang es den Sicherheitskräften, die Lage unter Kontrolle zu bringen. 42 Personen wurden in Gewahrsam genommen.

Ein Sprecher des britischen Premierministers David Cameron verurteilte die Vorfälle als "total inakzeptabel". Die Innenministerin Theresa May erklärte: "Solch eine Missachtung für die öffentliche Sicherheit und für Eigentum kann nicht toleriert werden." David Lammy, der Parlamentsabgeordnete für Tottenham, versuchte am Sonntag vor Ort die Gemüter zu beruhigen. "Diese Gewalt ging hier von blindwütigen Leuten aus, von denen viele nicht aus Tottenham kommen", sagte er. "Was Mark Duggan passierte, muss ordentlich aufgeklärt werden. Aber die Antwort kann nicht Raub und Plündern sein. Wer sich an die zerstörerischen Konflikte der Vergangenheit erinnert, wird entschlossen sein, nicht dahin zurückzukehren."

Tottenham ist immer noch ein sozialer Brennpunkt

Lammy spielte damit auf die sogenannten "Broadwater"-Unruhen von 1985 an. Damals kam es in der gleichnamigen Sozialsiedlung in Tottenham zu schweren Straßenschlachten, bei denen ein Polizist getötet und weitere 60 von einem Mob verletzt wurden. Zwar hat es in der Zwischenzeit viele Bemühungen gegeben, ein besseres Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung zu schaffen, doch Tottenham ist immer noch ein sozialer Brennpunkt.

Die Arbeitslosigkeit, besonders unter Jugendlichen ist hoch, die Gegend zählt zu den ärmsten in Großbritannien. Fast die Hälfte aller Kinder wächst hier in Armut auf. Das Sparprogramm der Regierung hat die Situation nicht verbessert, nachdem zahlreiche Jugend- und Gemeindezentren aufgrund der Ausgabenkürzungen schließen mussten. Und zwischen Polizei und Jugendlichen kommt es immer wieder zu Spannungen, weil die sich von häufigen Straßenkontrollen schikaniert fühlen.