Der Aussichtsturm ist das touristische Herzstück der Zugwiesen in Ludwigsburg. Der Ornithologe Rainer Ertel erklärt, welche Vögel man in dem Biotop am Neckar am besten beobachten kann.

Ludwigsburg - Rainer Ertel hört kein bloßes Zwitschern. Er hört das Tüdio-tüdio der Mönchsgrasmücke oder das Tjüt-tjüt-tjüt des Grünschenkels. Der 75-Jährige steht auf dem Aussichtsturm in den Zugwiesen und hält sich den Feldstecher vor die Augen. Dort dümpelt ein Blesshuhn im seichten Gewässer. Am Ufer wartet ein Graureiher regungslos, ob etwas Schmackhaftes vorbeikommt. Nicht mal das Schnattern der Graugänse, die im Pulk über den Neckar fliegen, bringt ihn aus der Ruhe. Auf einem Pfahl, der knapp aus dem Wasser lugt, hat ein Kormoran seine Schwingen wie zum Gebet gebreitet. Er trocknet sie, erklärt Rainer Ertel. Eine Bachstelze hopst durchs Gras. Alle Vöglein sind schon da.

 

Die Zugwiesen sind Rainer Ertels Revier. Seit 60 Jahren beobachtet das Mitglied des Naturschutzbunds (Nabu) Vögel, promoviert hat Ertel über Gelege. Amsel, Drossel, Fink und Star liegen dem früheren Biologie- und Chemielehrer derart am Herzen, dass er sich einst für einen anderen Job beurlauben ließ: den des Bundesgeschäftsführers des Deutschen Bunds für Vogelschutz, heute Nabu. Alle Kontinente hat er für seine Studien bereist. Sieben Bücher sind das Ergebnis, aber nicht der Lohn. Der Pensionär aus Aldingen nennt sich selbst Ornithomane. Er spricht vom Goldwaschen. Das Aufspüren seltener Exemplare ist seine Schatzsuche. Der Rosenstar, den er jüngst fotografieren konnte, war so „ein dickes Nugget“. Es sei der Erste für Ludwigsburg gewesen und der Einzige für Deutschland dieses Jahr. „So eine Rarität zu sehen, das ist etwas Tolles“, sagt er.

Nach 15 Jahren Arbeit ist hier eine Auenlandschaft entstanden

In den Zugwiesen sind die Voraussetzungen gut. Hier ist der einst gezähmte Neckar wieder verwildert worden. 2012 wurde das umgestaltete Areal geflutet, 15 Jahre Arbeit und acht Millionen Euro hat das gekostet. Auf rund 17 Hektar Fläche ist im Neckarknie bei Poppenweiler eine Auenlandschaft entstanden. Das Interesse ist gewaltig. Der Baubürgermeister Michael Ilk spricht von einem Besuchermagneten. Herzstück des Naherholungsgebiets ist der Turm Storchennest. Die Stahlkonstruktion steht auf einer Insel und ist über einen Holzsteg erreichbar. Von der Plattform in sechs Meter Höhe hat man einen Rundumblick. Infotafeln ermuntern zum Vogelgucken aus der Vogelperspektive.

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Rainer Ertel begrüßt die Renaturierung, „hier war nur Wiese“. Er zeigt vor einer Bank unterhalb des Turms aufs Wasser – zum Eisvogel-Hotspot. „Ich schätze, dass der Eisvogel hier in fünf Jahren 200 000-mal fotografiert wurde.“ Rainer Ertel freut sich, wenn andere seinen Spaß an der Ornithologie teilen. „Je mehr sich die Leute begeistern, desto mehr beteiligen sie sich“, sagt er.

Die Störche werden auf dem Gestänge nicht brüten, sagt der Experte

Doch vollkommen ist seine Freude nicht. Zwei Kritikpunkte findet er am Projekt, und einer trifft ausgerechnet den beliebten Ausguck. „Dort oben wird in den nächsten 1000 Jahren kein Storch brüten“, entfährt es ihm, denn das Gestänge auf der Spitze habe nicht die perfekte Form und befinde sich obendrein auf dem Präsentierteller. Und dort seien die Besucher – und verjagten damit mitunter Tiere, die sie eigentlich beobachten wollten. Er hätte sich daher eine Tarnung gewünscht. Darüber hinaus habe man zu viele Pflanzen gesetzt, jetzt verwaldeten einige Uferabschnitte.

Dennoch zieht es Rainer Ertel in die Zugwiesen. Fast täglich fährt er das Gebiet ab und hält die Ohren aus den geöffneten Fenstern. Minutiös schreibt er auf, was er wo hört – ehrenamtlich. Auf dem Beifahrersitz liegen Kameras und Ferngläser griffbereit. Seine Daten gibt er auf Ornitho.de ein – seit 1958 tut er das. Jetzt, im Sommer, ist es ruhiger. „Die Vögel haben mit der Brutaufzucht zu tun, Hobbys wie Singen können sie sich nicht leisten.“

Offiziell gibt es 150 Vogelarten in den Zugwiesen

Doch trotz der Babypause könne man an guten Tagen um die 50 Vogelarten in den Ludwigsburger Zugwiesen entdecken. Offiziell seien 150 nachgewiesen. Die 151. ist am 16. Juni dazugekommen. Da ist neben Rainer Ertel eine Zwergdommel aus dem Dickicht aufgestiegen und ab durch die Mitte. „Meine erste Zwergdommel in 15 Jahren“, sagt er und wirkt ehrlich beglückt. Echtes Gold. Fotografieren konnte er den Vogel nicht. Doch er war da. Rainer Ertel ist sich sicher: „Mir wird man das glauben.“

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