Nirgends verändert sich die Stadt so schnell wie im Europaviertel. Auf der Dachterrasse der Stadtbibliothek steht man mittendrin. Antonio Arnesano erklärt, warum er das dynamische Treiben interessiert und wehmütig gleichzeitig betrachtet.
Stuttgart - Klopfen, rattern, hupen. Kräne, Schienen, Straßen. Menschen, Züge, Autos. An kaum einem Ort in der Stadt ist so viel Bewegung wie am Mailänder Platz und in seiner Umgebung. Hier verändert sich die Stadt schnell und drastisch. Viel wird über diesen Ort Stadt diskutiert – über den Shoppingtempel Milaneo, über Stuttgart 21 oder über den Wolkenkratzer Cloud No. 7.
Antonio Arnesano scheint das Tohuwabohu nicht mal zu bemerken. Er steht auf der Aussichtsplattform der Stadtbibliothek auf dem Dach des achten Obergeschosses und schaut an den Superlativen einfach vorbei. „Ich habe immer einen Blick nach Norden“, erzählt er. Es ist ein bisschen wie ein Blick zurück in die Vergangenheit. Auf alte Klinkerbauten, auf Gleise und Waggons. „Ich bin auf der Prag aufgewachsen“, sagt er und zeigt über eine große Baustelle hinweg Richtung Nordbahnhof.
Antonio Arnesano ist ein klassisches Gastarbeiterkind, die zweite Generation, aufgewachsen an der Mittnachtstraße, so wie seinerzeit viele Kinder aus Einwandererfamilien. Seine Eltern stammen aus Süditalien, aus der Hafenstadt Brindisi. Der Vater: Rangierer am Stuttgarter Hauptbahnhof. Die Mutter: beschäftigt in der ehemaligen Betriebsküche am Gleis 16. „Wir hatten kein Auto, wir waren richtige Bähnler.“
Auf der Plattform ist die Ruhe vor dem Sturm
Mittlerweile ist der 53-Jährige vom Norden in den Osten gezogen, doch er arbeitet in Blickweite seiner alten Heimat: im Café Lesbar im achten Stock des Stadtbibliothek-Kubus. Während sich vor den riesigen Fensterfronten Baukräne unaufhörlich drehen und Menschen durch die Straßen strömen, herrscht hier eine ganz andere Stimmung: Entschleunigung. Ruhe. Kühle.
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Der Caritasverband betreibt in der preisgekrönten Bibliothek das Café als Außenstelle der Neckartalwerkstätten für behinderte Menschen. Wenn Antonio Arnesano nicht gerade beim Catering eingesetzt wird, arbeitet er hier als hauptamtlicher Mitarbeiter mit Beschäftigten mit Handicap. Bei Kaffee, Kuchen und Mittagstisch wird die Hektik des Europaviertels ausgesperrt. Viele machen hier ihre Hausaufgaben, kommen zum Lernen oder Arbeiten, erfährt man.
Seit seiner Kindheit hat sich das Viertel komplett gewandelt
Antonio Arnesano geht immer wieder zum Luftschnappen auf die Aussichtsplattform. Während vor ihm und hinter ihm und neben und unter ihm alles neu und anders ist, Dinge verschwinden und entstehen, denkt er an seine Kindheit zurück, in der er auf den Gleisen und in Tunneln gespielt hat. „Die Erinnerungen sind da, aber die Bilder, die ich sehe, sind komplett andere“, sagt er. Straßenführungen verlaufen neu; wo Speditionen, Bahngebäude und Brachen waren, sieht er heute begrünte Firmendächer, elegante Glasfronten, moderne Wohnungen, Gastronomie, einen urbanen Hotspot: „Früher war hier ein Loch, jetzt ist die Verbindung zwischen der City und dem Norden vollständig geschlossen.“
Wann immer Antonio Arnesano hier oben durch das Labyrinth an Metallabsperrungen geht, ist um ihn herum Action. Wenn die Gleise endgültig zurückgebaut werden und das neue Rosensteinquartier entsteht, wird noch mehr los sein. Doch die Konstanten, die Orientierungspunkte, die bleiben: Fernsehturm, Bonatz-Bau, Killesberg, Rathaus, Schlossgarten. „Die Weitfront mit den Türmen ist unschlagbar“, sagt er und lächelt versöhnlich, „und auch der Rundumblick von Ost nach West ziehend ist schon schön.“ Manches ändert sich sogar am Mailänder Platz nie.
Diese Aussichtspunkte präsentieren wir Ihnen in Zusammenarbeit mit dem VVS und der Regio Stuttgart Marketing- und Tourismus Gesellschaft.