Das Kunstmuseum Stuttgart widmet sich Camille Graeser. Der Künstler versucht auf der Fläche Töne und Rhythmen bildnerisch zu erzeugen.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Schöngeister tun sich meist schwer mit der Mathematik, als Schüler sind sie beim Vektorrechnen und Wurzelziehen oft kläglich gescheitert. Für Camille Graeser waren Kunst und kalte Berechnung keine Gegensätze. Er war überzeugt, dass geometrische Formen klingen können wie Musik, dass sich farbige Quadrate in einen flotten Rhythmus bringen lassen oder schnöde Rechtecke nichts anderes als optische Musik sind. „Harmonikale Konstruktion“ oder „Sinfonie der Farben (Farbensinfonie)“ nannte er seine Bilder.

 

Das Kunstmuseum Stuttgart widmet Camille Graeser nun eine Ausstellung. Denn er wurde zwar 1892 in Genf geboren, wuchs aber in Stuttgart auf und besuchte dort die Königliche Kunstgewerbeschule. Viele Jahre war er auch Privatschüler bei Adolf Hölzel und betrieb in Stuttgart ein Atelier für Inneneinrichtung und Produktgestaltung, 1927 wurde Graeser auch beauftragt, in der Weißenhofsiedlung eine Musterwohnung im Wohnblock von Mies van der Rohe einzurichten. 1933 zwangen die politischen Verhältnisse Graeser, zurück in die Schweiz zu gehen – und erst da beginnt er, inzwischen schon jenseits der vierzig, mit der Malerei, genauer: mit der Konkreten Kunst. Die will nicht mehr Motive aus der Wirklichkeit auf die Leinwand übertragen, sondern baut auf mathematisch-geometrischen Grundlagen auf: Rechteck, Kreis, Quadrat.

Geometrisch Formen, rhythmisch verteilt

Graeser war fasziniert von der Musik von Paul Hindemith und Arnold Schönberg und versuchte ähnlich wie sie in ihren Kompositionen nun auch auf der Fläche Töne und Rhythmen bildnerisch zu erzeugen. Deshalb konzentriert sich das Kunstmuseum auf das Thema „Camille Graeser und die Musik“ und rückt seine Loxodromischen Kompositionen ins Zentrum der Schau, die Eva-Marina Froitzheim mit Unterstützung der Camille Graeser Stiftung aus Zürich kuratiert hat. Loxodrom ist ein Begriff aus der sphärischen Trigonometrie und bezeichnet eine Kurve auf der Oberfläche einer Kugel.

Die Titel der Bilder geben meist eine Ahnung, worum es dem Künstler ging: „Struktur – Progression 1:2:4:8“ nennt sich etwa ein großes Format aus dem Jahr 1970, auf dem unterschiedlich gestreifte Quadrate auf weißem Grund verteilt werden. Studien auf Karopapier verraten, das hinter den Bildern ausgetüftelte Systeme stecken, Graeser hat für seine Gemälde auch viele Proportionsstudien angefertigt, um die Struktur festzulegen.

Aber man muss kein Mathe-Ass sein, um zu erkennen, wie Graeser versuchte, geometrische Formen rhythmisch auf der Fläche zu verteilen. Er entwickelt auch eigene Formen, die ein wenig an eckige Noten erinnern, die er schräg auf gerastertem Grund anordnet. Immer wieder gelingt es Graeser, Streifen, Rechtecke oder Quadrate stabil und doch leicht auf der Fläche zu arrangieren, aber es ist trotz der frischen Farben eine kühle Kunst, konstruiert, berechnet, nüchtern gesetzt.

Parallelen zu Bachs Kompositionen

Das, was er mit optischer Musik bezeichnete, klingt nicht nach einem prall orchestrierten Konzert, sondern erinnert eher an die streng strukturierten Kompositionen von Bach. Während der seine Motive allerdings höchst einfallsreich variierte, gerät die optische Musik Graesers mitunter etwas fad. Manches mag als Experiment und Konzept interessant sein, in der Reihung wiederholt sich in der Ausstellung dann doch manches, selbst wenn es im Detail anders austariert sein mag.

Beeindruckender sind die größeren Formate, in denen Graeser unterschiedlich breite Blockstreifen in souveränen Kompositionen zusammenbringt – „Horizontal-Elemente in Vertikal-Relation“ (1964) nennt er das dann oder „Relation mit fünfteiligem Drittel (Nonkomplementär 6:5:4)“. Manchmal verwandelt sich die kühle Berechnung sogar in freche, fröhliche Dynamik – wie bei „Triade (Triadisches Thema)“, in der die Farbquadrate und Rechtecke kühn aufeinanderprallen.

Ob es der „Klang zweier Berührungen“ ist oder die „Bewegung durch Strukturwechsel bei gleichen Farbquanten“, Graeser war mit seiner politisch unverfänglichen Kolor-Sinfonik im Nachkriegsdeutschland durchaus erfolgreich. 1977 wurde er sogar auf die Documenta in Kassel eingeladen. Wenn Camille Graeser über seine Kunst sprach, soll er das aber keineswegs mit der Nüchternheit eines Naturwissenschaftlers getan haben, sondern soll höchst poetisch über die Musik und die Mathematik in der Kunst geredet haben.