Berlin - Dat Vuongs Fluchtgeschichte beginnt in Saigon und endet in Berlin. Weil sein Vater als Fotograf für die südvietnamesische Regierung arbeitete, wurde er von den neuen Machthabern verfolgt. Von 1981 an unternimmt seine Familie mehrere Fluchtversuche. Seine Mutter wird dabei 1983 vom deutschen Rettungsschiff Cap Anamur gerettet. Der achtjährige Junge und sein Vater werden verhaftet. Dat Vuongs Stimme wird brüchig, als er berichtet, dass er seine Mutter erst vier Jahre später in Deutschland wiedergesehen hat.
An dem Tag, an dem Sejla Mujacic mit ihrer Familie vor dem Krieg in Bosnien-Herzegowina fliehen muss, geht sie morgens noch in die Schule. Am Nachmittag heißt es plötzlich: Wir besuchen den Onkel – ein Ausflug ohne Rückkehr. Zehn Jahre ist das Mädchen alt, als es 1992 seine Heimat zurücklässt und zu Verwandten nach Nürnberg flieht. Sie sieht ihren Vater erst zwei Jahre später wieder. Sejla Mujacic lebt heute in Sarajevo.
Als Christine Rösch 16 Jahre alt ist, geht der Zweite Weltkrieg zu Ende. Das Mädchen aus mährisch Neutitschein erlebt zusammen mit ihrem Bruder die wilde Vertreibung der Mutter durch die tschechische Bevölkerung. Sie selbst und ihr Bruder müssen bleiben und auf einem Bauernhof Zwangsarbeit leisten, bis sie im März 1946 ebenfalls ausgewiesen werden. Erst da sehen sie ihre Mutter wieder. Christine Rösch erzählt gefasst mit der Grandezza einer alten Dame mit weißen Haar von einem Leben, das nach dem Verlust der Heimat in München weiterging.
Die Familiengeschichte vieler Deutscher
Der Junge aus Vietnam, das Mädchen aus dem ehemaligen Jugoslawien und die Jugendliche aus dem ehemaligen Sudetenland haben einander nie kennengelernt. Dennoch sind die drei Zeitzeugen für eine gemeinsame, ihr Leben erschütternde existenzielle Erfahrung. Sie haben den Verlust ihrer Heimat erlebt und schier aus dem Nichts ein neues Leben beginnen müssen. Sie teilen diese Menschheitserfahrung mit vielen anderen weltweit. Für ein Drittel der Deutschen gehört die Flucht und Vertreibung von 14 Millionen Menschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus den ehemals deutschen Gebieten zu ihrer Familiengeschichte. Dazu kommen Menschen aus anderen Ländern, die in den Jahrzehnten danach nach Deutschland kamen.
Im neuen Berliner Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung erzählen die drei stellvertretend für all die anderen ihre Geschichte an einer Medienstation in Bild und Ton. Das Haus will ausdrücklich eine Aufforderung zum Austausch von Lebensgeschichten und Erfahrungen sein. Ein Ort des Zuhörens – und nicht des lauten und grellen politischen Schlagabtausches. Das spürt man bei jedem Wort – und daran, wie Gundula Bavendamm, die Direktorin des Hauses, das Konzept erklärt. Vielleicht wird mancher Besucherin und manchem Besucher die Wucht der universellen existenziellen Erfahrungen deutlich, wenn sie sich selbst die Frage stellen: Was würde ich auf keinen Fall zurücklassen, müsste ich die Heimat verlassen? Oder an der Riechstation auf die Frage stoßen, wie eigentlich Heimat riecht.
Platz für alle Geschichten von Heimatverlust
„Der Verlust von Heimat ist mehr als Verlust von Materiellem. Es geht um den Verlust des sozialen Status, von Menschen und Zusammenhängen“, sagt Bavendamm. Alle diese Geschichten sollen Platz im Dokumentationszentrum haben. Verlust soll hier spürbar werden. Da ist zum einen die Geschichte der Zwangsmigration im 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Da ist aber vor allem auch die historische Aufarbeitung und Einordnung der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Weg zur Vertreibungsgeschichte der Deutschen führt einzig und allein durch die Exponate zur NS-Expansionspolitik und des Völkermord an den europäischen Juden. Abkürzungen sieht das Ausstellungskonzept des Stuttgarter Büros Brückner nicht vor. Versöhnung ist das erklärte Ziel des wissenschaftlichen und zugleich den Menschen zuwandten Tuns hier.
Versöhnung: der Begriff steht bewusst neben den Worten Flucht und Vertreibung im Namen der 2008 gegründeten Stiftung des Bundes. Dazu gehöre, sagt Bavendamm, dass sich die Geschichte der Deutschen nur im europäischen Kontext und in Verbindung mit der nationalsozialistischen Politik erzählen lasse. Diesen Balanceakt muss das Haus nun auf seinen 1300 Quadratmetern Ausstellungsfläche und mit seinen 700 Exponaten, Fotos und Karten leisten. Bavendamm weiß: das berührt einen „politisch-moralischen Grundkonflikt im Selbstverständnis der Deutschen“.
Die promovierte Historikerin führt durch ihr fast fertiges Haus am Anhalter Bahnhof und ist sichtlich froh, dass auch seine Geschichte endlich an diesem Punkt angelangt ist. Als sie 2016 nach vielen Kontroversen um das Vorhaben ihr Amt übernahm, war ihr erklärtes Ziel, das Haus wieder in einen produktiven Arbeitsmodus zu bringen. Denn die Historie des Haues ist lang. Sie begann damit, dass Erika Steinbach (CDU) als Vorsitzendes des Bundes der Vertriebenen und der Sozialdemokrat Peter Glotz, mit seiner Mutter als Kind selbst aus dem Sudetenland vertrieben, 1999 ein Zentrum gegen Vertreibung forderten. Sofort schlugen die Wogen hoch. Steinbach, die nicht mehr Mitglied des später geschaffenen Stiftungsbeirats ist, war für viele Kritiker des Zentrums im In- und Ausland nicht Versöhnerin, sondern Spalterin.
Ein Mantel schützt die Geburt der Tochter
Langsam nahm das Projekt dennoch Fahrt auf, als es 2005 im Koalitionsvertrags von CDU, CSU und SPD verankert wurde. Die Parteien bekannten sich „zur gesellschaftlichen wie historischen Aufarbeitung von Zwangsmigration, Flucht und Vertreibung“. In ihrer Antrittsrede als Kanzlerin sprach Angela Merkel von „einem sichtbaren Zeichen“, das lange zum Synonym wurde für diesen „neuen Erinnerungsort in der bundesdeutschen Erinnerungslandschaft“. Bavendamm weiß, dass sie hier mit ihrem 33-köpfigen Team eine „erinnerungspolitische Weichstelle“ der Deutschen mittels Bildern, Karten, Filmen, oft sehr persönlichen Ausstellungsstücken und interaktiven Angeboten durchleuchtet
Da ist der schwere schwarze Mantel. Seine Geschichte spricht für sich. Margarete Jendretzki trug ihn, als sie im November 1946 aus Oberschlesien vertrieben wurde. Irgendwo zwischen Liegnitz und Sagan brachte sie ihre Tochter Dorette in einem Eisenbahnwaggon zur Welt – geschützt durch den Mantel. Die Familie hat ihn nun dem Dokumentationszentrum geschenkt. Wie alle Exponate erzählt er eine bewegende Geschichte.
Die abgebrochene Machete aus Ruanda ist eine vielsagende, wenn auch stumme Zeugin des Völkermord an den Tutsi. Das zersplitterte Mobiltelefon, das 2015 für einen jungen Mann aus Syrien zum Überlebensinstrument auf seinem Weg nach Deutschland wurde, steht für die Fluchtbewegungen der Gegenwart. Und da sind die Bilder toter Frauen, die von Soldaten der russischen Armee 1945 zu Tode vergewaltigt wurden oder die Landkarte, die zeigt, wo im Balkankrieg in den 1990er Jahren Vergewaltigung von Frauen als bewussten Instrument der Kriegsführung eingesetzt wurde. An manchen Exponate befindet sich eine Warnung: „Verstörender Inhalt“. Zu recht. Aber wie könnte es anders sein, wenn es um Menschen inmitten von Gewalt, Flucht und Vertreibung geht. .