Tomas Tranströmer

 

Der Adlerfels

Hinterm Glas des Terrariums

die Reptile

seltsam reglos.

Ein Gedicht wie ein Bahnknotenpunkt

Im deutschen Sprachraum war es zuerst die Dichterin Nelly Sachs, die erste Hinweise auf diesen schwedischen Mystiker gab. In einem Berliner Literaturgespräch im Jahr 1968 sah sich Tranströmer zu einer seiner raren poetologischen Erklärungen veranlasst: „Ich sehe ein Gedicht nicht als eine Erklärung, sondern als eine neue Perzeptions- und Kommunikationsweise. Wie in einem Bahnknotenpunkt, wo sich die Züge aus allen Richtungen treffen, gibt ein Gedicht plötzlich einen neuen Kommunikationsknotenpunkt, von dem aus die Wirklichkeit zwar nicht erklärt, aber in einer neuen Beobachtung gezeigt wird.“ An den Knotenpunkten von Tranströmers Gedichten überkreuzen und überlagern sich immer wieder die Szenarien des Alltags mit Traumbildern und Zeichen einer Daseinsverlorenheit. Dieses Weltgefühl einer Verlorenheit kann sich auch in suggestiven Naturbildern niederschlagen, wenn er etwa im Band „Ostsee“ die Bewegungen der Wellen und des Lichts festhält und die Menschen vergegenwärtigt, die nahe der Gewässer leben. Die „Vision“ kann sich aber auch als Flaschenpost aus dem Reich der Toten manifestieren. Das Flüstern der Toten wird zu einem mächtigen Chor, der dem diskreten Visionär den Weg weist. Tranströmer ist als Dichter auch ein Hadeswanderer, der uns mit einer „Trauergondel“ zu den Schatten geleitet.

Es hat lange gedauert, bis dem in fünfzig Sprachen übersetzten Weltpoeten Tomas Tranströmer auch im deutschen Sprachraum die Anerkennung zuteil wurde, die er verdient. Seit dreißig Jahren erscheint sein schmales Werk im Carl Hanser Verlag. Vor zwanzig Jahren hat der Dichter einen schweren Schlaganfall erlitten, der sein Sprachvermögen stark beeinträchtigt hat. Mit Hilfe seiner Ehefrau Monica Tranströmer konnte er aber in den vergangenen Jahren wieder aus dem erzwungenen Schweigen heraustreten. So begegnete man ihm etwa beim Münsteraner Lyrikertreffen 2009 in ungebrochener Präsenz. „Doch in einem dunklen Tunnel“, heißt es in einem „Epigramm“ des Dichters, „entfaltete er seine Flügel/und flog, wenn keiner zusah. Er muss sein Leben nochmals leben.“

Der Verlag freut sich

Verlag „Wir freuen uns über alle Maßen,“ hieß es aus dem Münchner Hanser Verlag, wo Tranströmers Bücher auf Deutsch erschienen sind. Man sei dem Autor freundschaftlich verbunden. Drei Titel sind lieferbar gewesen – bis gestern Mittag die Botschaft vom Nobelpreis die Bestellungen in die Höhe schnellen ließ. „Wir drucken jetzt nach“, teilte die Verlagssprecherin Christina Knecht auf Nachfrage mit.

Bücher In der kommenden Woche wird also Tomas Tranströmers zuletzt erschienener Gedichtband „Das große Rätsel“ (2005) wieder in den Buchhandlungen liegen, dazu die Autobiografie „Die Erinnerungen sehen mich“ (1999) und die Ausgabe der 1997 erstmals veröffentlichten „Sämtlichen Gedichte“, die auch die Arbeiten aus den zuvor erschienenen Sammlungen „Der wilde Marktplatz“ und „Für Lebende und Tote“ enthält. Die Gedichte wie die autobiografische Prosa von Tomas Tranströmer hat Hanns Grössel ins Deutsche übertragen.

Gedicht "Der Adlerfels"

Tomas Tranströmer

Der Adlerfels

Hinterm Glas des Terrariums

die Reptile

seltsam reglos.

Eine Frau hängt Wäsche auf

im Schweigen.

Der Tod ist windstill.

In der Tiefe des Bodens

gleitet meine Seele

schweigend wie ein Komet.