In ihrem neuen Buch will die jüdische Autorin Mirna Funk zeigen, was man „von Juden lernen kann“. Wir haben nachgefragt, was genau sie damit meint.
Frau Funk, in Ihrem Buch beschreiben Sie acht Denkkonzepte aus dem Judentum. Eines davon ist Machloket, „richtig streiten lernen“. Was kann man von Juden lernen, wenn es um die Streitkultur geht?
Es ist ein großer Unterschied, wie miteinander diskutiert wird und ob man aushält, dass jemand eine andere Position vertritt als man selbst. In Israel sitze ich an einem Tisch mit Freunden unterschiedlicher politischer Positionen: super links, super rechts oder irgendwo dazwischen. Es wird heißblütig diskutiert, aber keiner steht auf und sagt, mit dem anderen rede ich nicht mehr. Freundschaften zerbrechen nicht wegen unterschiedlicher politischer Positionen. Was man auch verstehen muss: Im Judentum geht es um den Akt des Streits und um die Spannung, die dabei entsteht, nicht um das Ergebnis.
Sie selbst werden mit Ihren Büchern und Positionen häufig als streitbar wahrgenommen.
Ich bin eine Person mit dominantem Auftreten, die offen dafür ist, Diskussionen einzugehen – das ist in Israel und auch in meinem jüdischen Umfeld in Deutschland völlig normal! In einem nichtjüdischen Umfeld hingegen werden die Eigenschaften oft als irritierend wahrgenommen.
Woran liegt es, dass in Israel anders diskutiert wird?
In Israel haben wir es mit einer hochpolitisierten Gesellschaft zu tun. Es gibt keinen Tag, der nicht politisch ist. In Europa hingegen hatten wir in den vergangenen Jahrzehnten bis hin zur Coronapandemie eine weitgehend friedliche, unpolitische Zeit. Wir sind überhaupt nicht gewohnt gewesen, mit politischen Krisenzeiten und Spannungen zu tun zu haben und das auch auszuhalten. Der zweite Punkt ist: allein jüdisch zu sein ist schon hochpolitisch. Wenn man als Teil einer verfolgten Minderheit lebt, führt das natürlich zu einem anderen Denken, Diskutieren und Auf-die-Welt-schauen.
Sie widmen Ihr Buch den Juden, die außerhalb Israels leben. Weshalb?
In Europa steht man als Jude für Antisemitismus, für den Holocaust und für den Israel-Palästina-Konflikt. Man ist eine Projektionsfläche und Objekt. Ich wollte den Juden mit meinem Buch ihre Subjekthaftigkeit zurückgeben und zeigen: Was heißt es, jüdisch zu sein ohne den Beobachter? Ich fand, dass es ein Buch brauchte, das jüdische Kultur, jüdisches Denken und jüdische Philosophie in den Fokus rückt. Es sollte ein Akt des Empowerments, der Selbstermächtigung sein.
Auch wenn es anders geplant war, spielt der Nahostkonflikt nun doch an manchen Stellen eine Rolle in Ihrem Buch.
Nach den Anschlägen der Hamas am 7. Oktober war mir völlig klar, dass ich das Buch nicht publizieren kann, ohne auf bestimmte Aspekte, die auf die acht Denkkonzepte verweisen, einzugehen. Ich habe aber nichts verändert, ich habe nur hinzugefügt.
Welche Aspekte waren das?
Im Kapitel „Tikkun Olam“ habe ich etwa die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die nach dem 7. Oktober entstanden sind, erwähnt. Das zeigt, wie schnell die israelische Gesellschaft in der Lage ist, trotz eines so großen Ereignisses sofort aktiv zu werden. Solche Kräfte zu mobilisieren, obwohl man gerade am Boden liegt, das ist etwas sehr, sehr außergewöhnliches.
„Tikkun Olam“ ist die Pflicht, die Welt zu verbessern. In diesem Kapitel spielt auch der Messias eine Rolle. Was ist beim jüdischen Messias anders als beim christlichen oder islamischen?
Der Unterschied ist, dass der Messias im Judentum noch nicht erschienen ist. Außerdem ist er keine übernatürliche, sondern eine real existierende Person – jeder könnte der Messias sein! Das bedeutet, dass es in der jüdischen Identität eine Art messianischen Aktivismus in jedem gibt. Man wartet nicht auf jemanden, sondern man könnte derjenige sein, auf den alle warten. Und das führt zu einem anderen Verständnis von Gegenwart, Dasein und Aktivismus. Ich glaube ja, es ist meine Tochter (lacht).
Ihre Tochter ist 8 Jahre alt. Sie beschreiben im Buch, dass Sie ihr beibringen, immer wieder kleine Regeln zu brechen.
Man muss Regeln einfach hinterfragen. Nicht jede Regel ist notwendig oder moralisch in dem Moment. Das sollten wir nicht nur unseren Kindern beibringen, da sollten wir auch selbst dran denken.
Auch den Regelbruch Evas im Paradies, einen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen, interpretieren Sie anders als die christlichen Kirchen nicht als Sündenfall, sondern als Akt der Befreiung.
Im Judentum gibt es den Sündenfall nicht. Hätte Gott nicht gewollt, dass Adam und Eva aus dem Paradies fliegen, hätte er diesen Baum der Erkenntnis überhaupt nicht dort hingestellt. Er hat ihnen die Freiheit gelassen, sich auch gegen eine Regel von Gott zu stellen und ihnen damit die Freiheit des Willens geschenkt.
Sie sind in Ostberlin aufgewachsen mit einem jüdischen Vater und einer nicht jüdischen Mutter. Wann haben Sie gemerkt, dass Ihr Blick auf die Welt ein jüdischer ist?
Als Religion hat das Judentum in meiner Kindheit so gut wie keine Rolle gespielt. Kulturell, identitätsstiftend und auch historisch hingegen schon. Meine Großmutter ist in Paris im Exil geboren. Das heißt, wir haben eine ganz klassische deutsch-jüdische Holocaustgeschichte, die immer sehr präsent war. Als ich später immer wieder nach Israel gereist bin, habe ich festgestellt, dass meine Identität nicht nur eine deutsche, sondern auch eine jüdische ist.
Wie nehmen Sie den wachsenden Antisemitismus wahr?
Ich habe vor zehn Jahren meinen Debütroman „Winternähe“ geschrieben; in dem steht alles so drin, wie es jetzt ist. Ich bin nicht überrascht, nicht irritiert, nicht verwundert. Antisemitismus ist nicht mehr, sondern legitimer geworden. Er wird gerade zu einer Art Trend. Viele aktivistische Bewegungen sind zutiefst antisemitisch, weil sie die Juden nicht als Minderheit, sondern als elitären Unterdrücker definieren. Als Person des öffentlichen Lebens bin ich stark betroffen. Das ist anstrengend und gefährlich.
Wie gehen Sie damit um?
Im Moment überlege ich, meinen Hauptwohnsitz nach Tel Aviv zu verlegen, damit meine Tochter dort zur Schule gehen kann. Es ist schwer, immer dieser Angst ausgesetzt zu sein, dass etwas passieren könnte. Ich denke, dass wir deshalb in den nächsten Jahren eine Welle erleben werden: Juden, die aus der Diaspora nach Israel ziehen.
Person
Die Autorin Mirna Funk ist 1981 in Ostberlin geboren. Sie hat Philosophie studiert und arbeitet als freie Journalistin für verschiedene große Zeitungen und Zeitschriften. Für die Cosmopolitan schreibt sie eine monatliche Sex-Kolumne. Im Jahr 2017 erschien ihr Debütroman „Winternähe“, ihr 2022 erschienenes Sachbuch „Who Cares!“ wurde zum Bestseller. Die Autorin lebt heute in Berlin und Tel Aviv.
Buch
Mirna Funk greift in ihrem Buch „Von Juden lernen“ (dtv, 160 Seiten, 18 Euro), acht Theorien der jüdischen Ideengeschichte auf und bringt sie in den Dialog mit dem Jetzt. Funk zitiert dafür wichtige jüdische Philosophinnen und PhiIosophen wie Hannah Arendt und Martin Buber und behandelt etwa die jüdische Streitkultur, die Rolle der Frau und die Hilfe zur Selbsthilfe.
Am 17. Mai tritt Mirna Funk im Rahmen des About Pop Festivals in Stuttgart auf: „Jewfluence – Jüdischer Einfluss auf die Kultur gegen alle Widerstände“, Freitag, 17. Mai, 16.15 Uhr, mehr Infos >>>