Bahnchef Richard Lutz „Auch ich komme ungern zu spät“
Richard Lutz ist ein Eisenbahnerkind. Was der Chef des Konzerns von neuen Bauprojekten hält, pünktlichen Zügen und seiner Leidenschaft für das Schachspiel.
Richard Lutz ist ein Eisenbahnerkind. Was der Chef des Konzerns von neuen Bauprojekten hält, pünktlichen Zügen und seiner Leidenschaft für das Schachspiel.
Berlin - Vom Berliner Bahntower hat Richard Lutz den Überblick. Hoch über den Dächern der Hauptstadt kann der Chef der Deutschen Bahn auf die gläserne Fassade des Hauptbahnhofs schauen und hat Sichtkontakt zum Bundesverkehrsministerium. Dort war er in den vier Jahren vor seiner Zeit als Vorstandsvorsitzender häufig. Nur von einem Thema ist Lutz ähnlich begeistert wie von Zügen, Schienen und Bahnhöfen: Schach.
Herr Lutz, der Sommerurlaub steht an. Verreisen Sie mit der Bahn?
Ich mache seit vielen Jahren nur noch in Deutschland Urlaub. Meine Familie und ich werden jetzt nachholen, was im vergangenen Jahr ausgefallen ist: der Sommerurlaub an der Ostsee. Ich hoffe, dass die Corona-Inzidenzen es dieses Jahr zulassen. Und nachdem ich privat kein Auto mehr besitze, werden wir die ausgezeichneten Bahnverbindungen an die Ostsee nutzen.
Im Sommer mit dem Zug reisen, kann anstrengend sein. Es fallen ja gut und gerne einmal die Klimaanlagen aus. Halten die diesen Sommer durch?
Wir haben viel getan, damit die Verfügbarkeit der Anlagen hoch ist. Unsere alten Intercity-Wagen schwächeln manchmal bei extrem hohen Temperaturen, sie werden aber ohnehin nach und nach ausgemustert. Unsere Flotte wird immer jünger und damit auch stabiler. Die neuen ICE 4 sind sogar auf eine Außentemperatur von 45 Grad ausgerichtet.
Ein Ärgernis sind verpasste Anschlüsse. Nervt es Sie, wenn ein Zug unpünktlich kommt?
Natürlich ist das ärgerlich für unsere Fahrgäste. Auch ich komme ungern zu spät, aber ich merke bei meinen Zugfahrten, dass sich vieles positiv verändert: Die zahlreichen neuen Züge sind zuverlässiger, die Infrastruktur ist robuster geworden, und auch das Management der vielen Baustellen ist deutlich besser als früher.
Verspätete Züge gab es seit der Coronapandemie weniger. Plötzlich klappte es mit der Pünktlichkeit.
Es stimmt: Die Pünktlichkeit ist deutlich gestiegen. Das lag nicht nur an unseren operativen Fortschritten, sondern auch daran, dass insgesamt weniger Züge unterwegs waren und es dadurch weniger Staus auf der Schiene gab, vor allem auf den Engpassstrecken und in den stark belasteten Knotenbahnhöfen.
Vollere Züge bedeuten bald auch mehr Unpünktlichkeit?
Nein. Entscheidend ist nicht die Zahl der Fahrgäste, sondern die Leistungsfähigkeit des Schienennetzes. Der Schlüssel ist der massive Ausbau der Infrastruktur. In den letzten 25 Jahren ist die Infrastruktur nicht so stark gewachsen wie der Zugverkehr. Das dreht sich jetzt um: Mit Hilfe des Bundes investieren wir Rekordsummen – allein in diesem Jahr über zwölf Milliarden Euro, bis 2030 mindestens 170 Milliarden Euro. Das ist die größte Investitions- und Modernisierungsoffensive in der Geschichte der Eisenbahn, übrigens auch für die Anbindung der ländlichen Regionen.
Spüren Sie jetzt schon etwas vom großen Ansturm der Passagiere?
Ja, die Auslastung in den Fernzügen ist in den letzten Wochen auf im Schnitt 30 Prozent gestiegen. Zum Vergleich: Vor Corona waren es rund 55 Prozent. Wir merken: Die Menschen wollen wieder verreisen und sich begegnen. Schon 2020 hat uns der Trend zum Urlaub in Deutschland und zur klimafreundlichen Bahnanreise eine Art Sonderkonjunktur beschert. Und dieses Jahr haben wir gute Chancen für ein Sommermärchen auf der Schiene.
Günstige Tickets können helfen, noch mehr Menschen in die Züge zu bekommen. Was planen Sie im Sommer?
Wir haben kürzlich bereits eine Million Tickets für 17,90 Euro angeboten. Für alle ab 65 Jahre wird es jetzt noch günstiger: Ab sofort bis zum 30. September gibt es den Super-Sparpreis schon ab 15,90 Euro und in der 1. Klasse ab 25,90 Euro.
Einer könnte Ihnen das Sommergeschäft vermiesen. GDL-Chef Claus Weselsky hat mit Streiks ab Anfang August gedroht. Welche Adjektive fallen Ihnen zu Herrn Weselsky ein?
Unverständlich und unvernünftig. Wie kann jemand, der sich als Eisenbahner aus Überzeugung versteht, sich konsequent einer solidarischen Lösung verweigern? Das verstehe ich nicht. Wir strecken seit zwölf Monaten die Hand aus. Mein Eindruck ist, dass seitens der GDL einfach kein Interesse besteht, aufeinander zuzugehen, sondern dass etwas anderes im Vordergrund steht: eigenes Machtinteresse. Das macht die Schiene nicht stark und die Bahn nicht besser. Und es hilft weder dem Klima noch unseren Kunden.
Herr Weselsky wirft Ihnen vor, dass Management-Fehler passiert sind und so 30 Milliarden Euro Schulden angehäuft wurden. Nun solle bei den Mitarbeitern gekürzt werden. Warum kriegen Sie die Schulden nicht in den Griff?
Wer sich die Fakten anschaut, der weiß: Wir haben Kurs gehalten und investieren massiv in die Modernisierung der Zugflotte und den Ausbau von Schienennetz und Bahnhöfen. Und: Wir stellen weiter ein – allein in diesem Jahr 20 000 Beschäftigte. Dafür nehmen wir bewusst eine vorübergehend höhere Verschuldung in Kauf. Es wäre fatal, diese Wachstumsoffensive und unsere erfolgreiche Strategie der starken Schiene jetzt zu bremsen. Nach zwei schwierigen Coronajahren wollen wir ab 2022 wieder Gewinne schreiben. Das wird uns helfen, die Verschuldung im Rahmen zu halten.
Ein Geldfresser ist Stuttgart 21. Nun ist in Frankfurt am Main ein weiterer unterirdischer Durchgangsbahnhof geplant. Sind solche Großprojekte in Deutschland noch machbar?
Zunächst: Stuttgart 21 ist viel mehr als ein Tiefbahnhof. In Verbindung mit der Neubaustrecke nach Ulm schaffen wir die Voraussetzung für den Deutschlandtakt. Die neue Strecke wird ja – übrigens wie geplant – im Dezember 2022 in Betrieb gehen. Schon dann werden wir sehen, dass noch mehr Menschen vom Auto auf die Bahn umsteigen – wie wir das immer erlebt haben, wenn Großprojekte fertig geworden sind. Außerdem schaffen wir in Stuttgart den ersten digitalen Bahnknoten Deutschlands. Klar: Solche Vorhaben werden kontrovers diskutiert. Auch wir haben aus Stuttgart 21 viel gelernt. Wenn Großprojekte Nutzen für die Fahrgäste stiften, sind sie sinnvoll und machbar. Das haben wir beim Bau der Neubaustrecken bewiesen, die niemand mehr missen möchte.
Wie wollen Sie verhindern, dass es zu einem Frankfurt 21 kommt?
Frankfurt ist nicht Stuttgart. Wir ersetzen den Kopfbahnhof nicht, sondern wollen ihn um einen Tunnel für einen unterirdischen Durchgangsbahnhof ergänzen. Dadurch entlasten wir einen der wichtigsten Bahnknoten Deutschlands und befreien unser Schienennetz von einem chronischen Engpass. Die Idee kommt aus dem Deutschlandtakt, an dem wir alle Angebotsmaßnahmen und Infrastrukturprojekte ausrichten. Gewinner sind die Fahrgäste und das Klima, denn wir können rund 20 Prozent mehr Züge anbieten.
Mit wem würden Sie denn lieber über Geld für Großprojekte verhandeln – Armin Laschet oder Annalena Baerbock?
Mit der aktuellen Bundesregierung arbeiten wir im Sinne einer starken Schiene und einer Verkehrsverlagerung ausgezeichnet zusammen. Ansonsten warte ich demütig das Wählervotum ab. Alle Parteien, die für eine Regierung infrage kommen, wollen die Schiene stark machen. Alle wissen, dass wir nur so die Klimaziele in Deutschland erreichen können.
Die Grünen wollen Netz und Betrieb trennen. Sie lehnen das ab. Warum?
Eine Zerschlagung der Bahn wäre kontraproduktiv. Wer weiß, wie Eisenbahn funktioniert, der weiß auch, dass wir bei der integrierten Bahn bleiben müssen. Erfolgreiche Eisenbahnen sind integrierte Eisenbahnen. Da lohnt sich der Blick ins Ausland. Auch die Schweizerischen Bundesbahnen, die stets als leuchtendes Beispiel für exzellenten Eisenbahnbetrieb genannt werden, haben aus Überzeugung keine Trennung von Netz und Betrieb. Es gibt keinen Grund für einen schlechten deutschen Sonderweg. Er würde Zeit kosten und weder den Fahrgästen noch dem Klima nützen.
Bei all der Arbeit: Kommen Sie dazu, Ihrer zweiten Leidenschaft, dem Schachspielen, nachzugehen?
Leider viel zu selten, aber Corona hat interessanterweise einen Schachboom im Internet ausgelöst, dem ich mich nicht ganz entziehen konnte. Jenseits dessen habe ich auf meinem Smartphone ein Schachprogramm, und wenn ich in der S-Bahn oder im ICE sitze, spiele ich zur Entspannung und Ablenkung auch mal gerne gegen den Computer. Wenn ich irgendwann mal in Rente bin, dann fahre ich mit meiner Frau zu den großen Schachturnieren und genieße mein Hobby und die freie Zeit. Das haben wir uns vorgenommen.
Was fasziniert Sie so an Schach?
Schach hat mich persönlich sehr geprägt und positiv beeinflusst. Es gibt viele Parallelen zum richtigen Leben. Außerdem hat Schach eine inklusive und völkerverständigende Wirkung. Man kann sich an einen Tisch setzen und hat sofort eine gemeinsame Sprache. Ich habe durch die internationalen Turniere in meiner Jugend die Welt und die wunderbare Vielfalt von Menschen und Kulturen kennengelernt. Es gibt eine ganze Reihe von Schachspielern, mit denen ich heute noch in Kontakt bin und die sich an Spiele gegen mich erinnern, die 30 Jahre her sind. Es ist einfach eine tolle Gemeinschaft. Ein bisschen so wie bei uns Eisenbahnern. -