Tamas Detrich ist vor wenigen Tagen zum künftigen Intendanten des Staatsballetts gewählt worden. Er schätzt die Stuttgarter Kompanie, der er seit vier Jahrzehnten verbunden ist.

Stuttgart - Stuttgart – - Er wird 2018 die Nachfolge Reid Andersons antreten und neuer Intendant des Stuttgarter Balletts werden: Tamas Detrich. Verrät er schon jetzt etwas von seinen Plänen und Projekten?
Herr Detrich, 1977 waren Sie Absolvent der John-Cranko-Schule des Stuttgarter Balletts. Träumt ein junger Tänzer davon, irgendwann einmal zum Chef der Kompanie aufzusteigen?
Nein, auch wenn man als junger Mensch sicherlich Träume hat. Richtig realisiert habe ich die Berufung zum Intendanten erst jetzt, als mich der Verwaltungsrat am vergangenen Montag einstimmig gewählt hat. Das Bewerbungsverfahren davor war kein leichter Gang, in der Findungskommission wurden harte Fragen gestellt, es war fast wie ein Kreuzverhör. Aber das ist deren Job, und den haben sie gut gemacht.
Wie kamen Sie einst nach Stuttgart?
Ich habe im Juli 1975 in New York vorgetanzt beim Stuttgarter Ballett; ich kannte es von seinen berühmten Gastspielen in den USA, und sie haben mir einen Platz in der John-Cranko-Schule angeboten. Das musste ich erst mal meiner Mutter beibringen. Sie fragte mich: Und wann wirst du gehen? Ich sagte: Am 14. August fange ich in Stuttgart an. Das war ein Schock für sie, aber sie hat mich total unterstützt.
Nun sind Sie ja schon seit sechs Jahren stellvertretender Intendant hier in Stuttgart. Da stellt man sich den Übergang hin zum Chefsessel ganz leicht oder kontinuierlich vor. Stimmt das?
Ganz so leicht wird es sicher nicht. Aber ich weiß, wie das Haus, wie die Kompanie funktioniert. Mir hilft, dass die Tänzer sich sehr über meine Wahl gefreut haben. Es war ja bekannt, dass ein neuer Ballettchef gesucht wird, und es gab in den vergangenen sechs Monaten einige Unruhe durch Spekulationen, wie es weitergehen könnte.
Es fiel der Name von Sasha Waltz als möglicher Intendantin für Stuttgart . . .
. . . nichts gegen Sasha Waltz, ich kenne sie nicht persönlich. Aber das war, meiner Meinung nach, kein naheliegender Name für das Stuttgarter Ballett.
Springen wir ins Jahr 2018. Sie werden dann selber einen Stellvertreter oder eine Stellvertreterin brauchen. Haben Sie schon jemanden im Blick?
Ich habe drei Jahre Zeit, das zu entscheiden, denn es muss alles passen. Aber ja, ich habe da schon jemanden im Kopf. Mehr möchte ich aber noch nicht verraten.
Wird es schwer für Sie sein, aus dem Schatten von Reid Anderson zu treten, der die Kompanie 2018 sagenhafte 22 Jahre geprägt haben wird?
Ich und Reid arbeiten sehr gut zusammen, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind, unterschiedliche Geschmäcker haben. Reid Anderson hat mir früh die Einstudierung des Cranko-Repertoires in New York, Paris, Wien und Australien anvertraut. Ich kenne heute alle in der Ballettwelt, und inzwischen kennt jeder mich. Es ist wichtig für einen Ballettdirektor, gut vernetzt zu sein. Und von jetzt an werde ich bei der Planung meiner ersten Spielzeiten entscheiden: Welche Choreografen interessieren mich, wo sehe ich neue Entwicklungen? Ich habe viele Ideen.
Es gibt viele positive Stimmen zu Ihrer Wahl. Es gibt auch einige Enttäuschte. In der Redaktion der Stuttgarter Zeitung erreichte uns die empörte E-Mail eines Lesers, der beklagte, er fühle sich bei seinen Ballettbesuchen hier immer wie in einem verstaubten Museum.
Ich weiß nicht, was diejenigen, die so etwas sagen, hier gesehen haben. Aber wer in dieser Spielzeit Abende wie „Strawinsky heute“ mit Choreografien von Sidi Larbi Cherkaoui, Marco Goecke und Demis Volpi gesehen hat, oder unseren Ballettabend „Alles Cranko!“ und dann sagt, das sei altmodisch – sorry, der tut uns unrecht. Wir hatten bei „Alles Cranko!“ 14 ausverkaufte Vorstellungen.
Sicher, von allen drei Sparten des Staatstheaters hat das Ballett die höchste Publikumsauslastung, im Schnitt 95 Prozent plus. Verführt ein ständig volles Haus aber nicht zur Bequemlichkeit, dazu, immer auf das Bewährte zu setzen, statt auch mal ins Risiko zu gehen?
Ganz im Gegenteil! Ich möchte unbedingt neue Wege gehen. Und ich werde gleich in meiner ersten Spielzeit 2018 versuchen, das umzusetzen. Wissen Sie, deswegen lebe ich in Deutschland, weil uns das Theatersystem hier erlaubt, Risiken einzugehen. In Amerika ist so etwas nicht möglich, weil man dort immer auf den Ticketverkauf fixiert sein muss.
Können Sie sich vorstellen, auch mit radikaleren Künstlern wie mit Hofesh Shechter ins Gespräch zu kommen?
(lacht) Wie kommen Sie jetzt gerade auf diesen Namen? Ich bin nämlich wirklich an seiner Arbeit interessiert.
Wir sind weiter neugierig: welche Choreografie, welchen Tanzabend haben Sie zuletzt außerhalb Stuttgarts gesehen, die Ihnen imponiert haben?
Ich habe sowohl Akram Khans Kompanie als auch ihn selbst in einem Duett mit Israel Galván in Ludwigsburg gesehen. Wow, habe ich gedacht. Das hat mich sehr beeindruckt. Akram Khan hat noch nie für eine deutsche Kompanie ein Stück kreiert. Es ist vielleicht noch etwas früh, darüber zu sprechen, aber es würde mich freuen, wenn er etwas für Stuttgart kreiert. Ich möchte nicht nur unsere Tänzer, sondern auch unser Publikum mit anderen Sichtweisen anregen. Das muss nicht immer innerhalb des Opern- oder Schauspielhauses geschehen. Da muss man kreativ denken, auch im Hinblick auf die Zeit der Opernhaussanierung.
Glauben Sie, dass es in einem Vierteljahrhundert noch neue Handlungsballette geben wird?
Ja. Und ich möchte, dass dieses Genre weiter zu uns gehört. Wir sind in der luxuriösen Lage, tolle Tänzer, richtige Stars im Ensemble zu haben, die in aller Welt begehrt sind – und die brauchen Futter, neue Rollen. Die geben wir ihnen, einerseits, indem gute existierende Stücke wie zum Beispiel von Kenneth MacMillan ins Repertoire kommen, andererseits, indem wir neue Stücke in Auftrag geben.
Wie sieht es aus mit Experimenten, die die klassischen Genregrenzen hinter sich lassen, auch in Form von Raumfindungen, die die vierte Wand aufheben; wir denken an Künstler wie Jan Fabre, Jan Lauwers . . .
Unbedingt. Auch die Kooperation mit den anderen beiden Staatstheatersparten möchte ich nicht aus dem Blick verlieren. Wir hatten gerade die Schlemmer-Ausstellung in der Staatsgalerie: solche Ereignisse sind immer gut für tänzerische Interpretationen, die Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern. Oder denken sie an die Performance im städtischen Raum von einem unserer Tänzer: Louis Stiens. Ich hoffe, dass wir eine Plattform finden, möglicherweise mit der Musikhochschule oder dem Kunstmuseum, wo wir experimentell ausholen können. Das muss ja nicht immer mit der gesamten Kompanie sein.
Ballette von John Cranko sind mittlerweile – dank der großzügigen Vergabe des Rechteinhabers Dieter Gräfe – in aller Welt zu sehen: in Winnipeg, Hamburg, München, London oder Moskau. Warum muss man noch für Cranko nach Stuttgart kommen?
Als im Januar einige Solisten vom Bolschoitheater hier waren, um als Gäste eine Vorstellung von Crankos „Onegin“ zu tanzen, liefen sie über die Bühne und sagten ehrfürchtig: Das ist der Boden, das ist der Tanzsaal, in dem der „Onegin“ kreiert wurde. Das ist der Unterschied, der nur hier spürbar wird: Die direkte Weitergabe des Geistes von Cranko durch die Tänzergenerationen an diesem Ort.
Sie betonen die große Cranko-Tradition. Wäre es nicht wünschenswert, exemplarische Aufführungen der zentralen Werke von ihm auf DVD für die Nachwelt festzuhalten?
Oh, ja sehr gern. Grundsätzlich wünsche ich mir natürlich mehr Aufzeichnungen: gerade wurde der „Strawinsky“-Abend für das Fernsehen mitgeschnitten. Unser Problem sind die deutschen Tarifverträge, weswegen wir für solche Videoprojekte einen finanziellen Partner brauchen. Und die großen Cranko-Ballette zu produzieren, das ist eben sehr aufwendig.
Haben Sie am Montagabend vergangener Woche nach der Wahl im Verwaltungsrat denn ein wenig gefeiert?
Ja, ich habe zu Hause für meine Frau etwas gekocht, dann haben wir mit Champagner angestoßen. Aber vorher musste ich noch bei Marcia Haydée vorbeischauen. Sie hat mich einst als Tänzer in die Stuttgarter Kompanie geholt.