Die geplante Internationale Bauausstellung 2027 ist eine Riesenchance für Stuttgart und die Region. Ein Erfolg wird sie aber nur, wenn sie die Probleme im gesamten Stadtgebiet anpackt.

Stuttgart - Das Fräulein trägt Kapotthut über der Bubikopffrisur und stützt ein seidenbestrumpftes Bein auf das Trittbrett eines offenen Mercedes-Zweisitzers. Man schreibt das Jahr 1927, und im Hintergrund erhebt sich elegant das Corbusier-Doppelhaus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung auf seinen dünnen Stützen in die Luft. 2017: Wieder posiert eine junge Dame mit einer Karosse aus dem Hause Daimler an derselben Straßenkreuzung, diesmal aber eine Langhaarige in silbriger, mit dem Boliden an ihrer Seite progressiv um die Wette glänzenden Kluft. Nur das Gebäude im Hintergrund ist immer noch das gleiche Corbusier-Haus wie anno dunnemals.

 

Die Botschaft des Bildpaars ist zweideutig. Soll es uns signalisieren, dass Stuttgart seit den Pioniertagen der Moderne sich zwar modisch und technisch entwickelt hat, baulich aber im letzten Jahrhundert hängen geblieben ist? Oder soll es nur ein (etwas schlichter) Geburtstagsgruß an die Weißenhofsiedlung sein, die 2027 ihren Hundertsten feiert? Abgedruckt im sogenannten Memorandum IBA 2027 Stadt-Region Stuttgart sind die beiden Fotos aber fast das Einzige, was aus dem 24-seitigen Merkheft zur geplanten Internationalen Bauausstellung im Gedächtnis haften bleibt. Der Rest: abstraktes Kauderwelsch, Bürokraten- und Expertendeutsch, bei dem einem sofort die Augen zufallen. Dennoch beteuert der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn, wahnsinnig „Lust auf die IBA“ zu haben. Ein entsprechender Gemeinderatsbeschluss ist inzwischen gefasst, viele Orte und Firmen aus der Region wollen mitmachen, und Geld, um das Projekt in Gang zu bringen, gibt es auch. Aber wozu eigentlich eine Internationale Bauausstellung? Was kann und soll diese IBA 2027 genau bewirken? Wo genau soll sie stattfinden? Das weiß bisher keiner so richtig.

Deutlich wird immerhin, dass man bis zum Jubiläum der seinerzeit wegweisenden Weißenhofsiedlung wieder eine Bauausstellung auf die Beine stellen will, die nicht nur dem historischen Vorbild huldigt, sondern auch so einschlagen soll wie damals die Stuttgarter Werkbundausstellung unter der Ägide des Architekturtitanen Ludwig Mies van der Rohe. Nur dass es heute viel schwieriger ist, sich mit einer IBA international zu profilieren. IBAs gibt es wie Sand am Meer. Eine mal eben zu beauftragende Avantgarde wie in den zwanziger Jahren steht dagegen nicht mehr zur Verfügung, stattdessen herrscht der totale Pluralismus der Individualstile und -richtungen, so dass eine reine Architekturschau das Klassenziel verfehlen würde.

Abkehr von Architekturshows

1901 konnte Darmstadt mit der Künstlerkolonie Mathildenhöhe als erste IBA überhaupt noch den Jugendstil in Deutschland einführen, 1927 propagierte die Weißenhofsiedlung das Neue Bauen, und selbst die beiden Berliner IBAs waren zum Teil noch solche Stildemonstrationen: Die Interbau 1957 verstand sich mit locker in der Parklandschaft des Hansaviertels verteilten Hoch- und Flachbauten im International Style als Antwort des Westens auf die Ostberliner Stalinallee, und die IBA der achtziger Jahre importierte die Postmoderne aus den USA.

Aber diese zweite Berliner IBA bedeutete zugleich die Abkehr von den traditionellen Architekturshows. Denn vor allem reagierte sie auf die flächenhaften Abrisse der Nachkriegszeit, die massiven Proteste gegen die Berliner Wohnungsnot und die Hausbesetzungen in Kreuzberg, indem sie sich die Erhaltung und Modernisierung bestehender Gebäude auf die Fahnen schrieb. Ausstellungsgegenstand war keine Modellsiedlung mehr, sondern die Stadt. Mit ihren Leitbildern der „behutsamen Stadterneuerung“ (IBA alt) und „kritischen Rekonstruktion“ (IBA neu) schrieb sie europäische Stadtbaugeschichte und setzte Maßstäbe für alle nachfolgenden Internationalen Bauausstellungen.

„Prozessorientiert“ lautete fortan der Schlüsselbegriff. Rund zehn Jahre lässt man sich seither in der Regel Zeit für die Planung und Realisierung solcher Projekte, bei der IBA Emscher Park, die in den Neunzigern den Strukturwandel des Ruhrgebiets moderierte, ebenso wie in Hamburg, wo 2006 bis 2013 besonders die Anbindung der südlichen Stadtteile das Thema war.

Opfer des eigenen Erfolgs

Von 2017 bis 2027 dauert die IBA-Dekade in Stuttgart. An Ideen mangelt es nicht. Auf jeden Fall soll es um „Lösungsansätze für die städtebaulichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ gehen. Irgendwas mit nachhaltig also, irgendwas mit Wow-Effekt, irgendwas mit Mobilität, irgendwas mit Wohnen, Arbeit und Freizeit und das möglichst innovativ, ein „Schaufenster für Architektur, Ingenieurbaukunst und Baukultur aus Baden-Württemberg“ – das alles und noch mehr soll die Neckar-IBA werden. Die umliegenden Gemeinden überlegen schon eifrig, welche bereits geplanten Projekte sich durch das IBA-Etikett nobilitieren ließen, während Fritz Kuhn ein spektakuläres Neubauquartier im Rosensteinviertel toll fände und die Gemeinderatsfraktionen von „grünen Wohntürmen mit vierzig Geschossen“ (CDU) , von „integrierter Quartiersentwicklung“ (SPD) und „ökologischem Bauen“ (Grüne) träumen. Klingt alles nett. Aber auch sehr erwartbar. Zündet darum nicht. Und ergibt noch keine IBA.

Programmatisch weist der Passus des Memorandums den Weg, der die Region Stuttgart als „Opfer des eigenen Erfolgs“ beschreibt. Im Gegensatz zu den IBAs in den neuen Bundesländern, die sich Problemen wie Abwanderung und Deindustrialisierung stellen mussten, droht hier der Herzstillstand durch ein Zuviel von allem: zu viele Autos, zu viele Staus, zu viel Feinstaub, zu viel Wachstumsdruck, zu viel Wohnraumbedarf, zu viel unterdurchschnittliche Architektur, zu viel stadträumliche Zurückgebliebenheit. Stuttgart – man muss es so hart sagen – hat irgendwann im letzten Jahrhundert den Anschluss verpasst. Während andere Städte wie Frankfurt ihr riesiges Technisches Rathaus aus den 1970er Jahren abgerissen haben, um einem historisierenden Wiederaufbau der Altstadt Platz zu machen, die Stadtautobahn in Ulm der urbanen Neuen Mitte weichen musste, Düsseldorf sich aus dem gleichen Grund vom „Tausendfüßler“, einer durch die Innenstadt führenden Autohochstraße, verabschiedete und Hamburg sich mit dem megateuren Jahrhundertbauwerk Elbphilharmonie als Krönung der neuen Hafencity glanzvoll neu erfunden hat, brilliert Stuttgart im nächsten „Tatort“ mit einem Megastau auf der Weinsteige, der im Fernsehstudio gerade liebevoll nachgebaut wird.

Unterdessen gehen die echten Stuttgarter auf die Straße, weil ihnen die Luft zum Atmen genommen wird, und werden Forderungen aus der Bürgerschaft lauter, das Zentrum aus dem Würgegriff der Verkehrsschneisen zu befreien, es menschenfreundlicher, schöner und urbaner zu gestalten. „Städte für Menschen“ lautet der Titel eines Bestsellers des weltweit gefeierten dänischen Stadtplaners Jan Gehl.

Die ganze Stadt im Blick

„Eine IBA entsteht aus konkreten Herausforderungen der Stadtgesellschaft, aus jeweils aktuellem Problemdruck: Zentrale Themen einer IBA müssen aus Anlass und Ort herausgearbeitet werden“, heißt es auf der Internetseite eines Netzwerks ehemaliger und heutiger Akteure von Internationalen Bauausstellungen. Und so liegt es auf der Hand, dass man es sich in Anbetracht der drängenden Aufgaben viel zu leicht machen würde, einen neuen Idealstadtteil mit begrünten Fassaden im künftigen Rosensteinviertel zu errichten, auf jungfräulichem Gebiet, wo man ganz von vorne anfangen kann und alles richtig macht, was im Rest der Stadt weiter falsch läuft (der Stuttgarter Westen mit seinen dicht bebauten Straßenzügen und durchmischten Quartieren eignet sich als städtebauliches Vorbild dabei übrigens besser als der Weißenhof, um endlich vom Elend des modernen Siedlungsbaus wegzukommen).

Wie seinerzeit in Berlin muss es für Stuttgart eine IBA neu und eine IBA alt geben, die – aus dem aktuellen Problemdruck und dem Ort herausgearbeitet – die ganze Stadt in den Blick nimmt. Der Zeitpunkt ist günstig. In der Stadtgesellschaft rumort es, viele Bürger sind bereit, sich zu engagieren, und der vor visionären Entwürfen im Zweifel eher zurückschreckenden Stadt könnte ein Instrument wie die IBA Mut machen, sich in das Abenteuer eines groß angelegten Stadtumbaus zu stürzen. Zehn Jahre, das steht fest, werden als Planungs- und Realisierungszeitraum dafür nicht genügen, aber um die Weichen für die Zukunft zu stellen, um einen Anfang zu machen, reichen sie allemal.

Podiumsdiskussion am Montag, 30. Januar

Und schließlich braucht es, um so ein komplexes Projekt zu steuern, es inhaltlich zu schärfen und der IBA Erkennbarkeit auch in der Öffentlichkeit zu geben, ein Gesicht. Bisher ist im Stuttgarter IBA-Memorandum nur von einem Projektbüro die Rede, das die Bauausstellung „professionell organisieren“ soll. Aber ohne einen Direktor (oder, klar, eine Direktorin) vom Kaliber eines Ludwig Mies van der Rohe wie einst auf dem Weißenhof in Stuttgart oder eines Karl Ganser wie bei der IBA Emscher Park oder des Berliner IBA-Doppels der Achtziger, Josef Paul Kleihues und Hardt-Waltherr Hämer, wird es nicht gehen. Nur eine starke Managerpersönlichkeit mit fachlicher Kompetenz und intellektuellem Format, mit Rückgrat, Sendungsbewusstsein, Weitsicht und besonders der Eigenschaft, die Leute für die Ziele der IBA zu begeistern, wird das Projekt davor bewahren, sich in Beliebigkeiten zu verzetteln oder unter ihren Möglichkeiten zu bleiben.

Für Stuttgart und die Region bedeutet die IBA eine Riesenchance. Ein Erfolg wird sie dann, wenn vor allem die Stadtgesellschaft durch die Verbesserung ihrer Lebenswelt davon profitiert. Und wenn am Ende dann auch noch die Welt Bauklötze staunt – umso besser.

Termine

Der Bund Deutscher Architekten (BDA) Baden-Württemberg lädt am Montag, 30. Januar, zu einer Podiumsdiskussion über die IBA. Dabei soll es um einen „wesentlichen Teilaspekt“ des Projekts gehen: den „Verlust der Stuttgarter Mitte“. Auf dem Podium: Planungsexperten aus Zürich, Hamburg, Berlin und Heidelberg. Beginn um 19 Uhr, Friedrichstraße 5 (im Zeppelin-Carrée).

Auf Initiative der Architektenkammer Baden-Württemberg findet am Donnerstag, 2. Februar, ein Fachkongress zur Vorbereitung der IBA statt. Im öffentlichen Teil halten Walter Rogg, der Geschäftsführer der Wirtschaftsregion Stuttgart, und Martin Roth, bis 2016 Direktor des Londoner Victoria & Albert Museum, Vorträge in der Universität. Abschließend kommen die Referenten und Entscheidungsträger aus der Region zu einer Diskussion zusammen (ab 17 Uhr, Keplerstraße 17, Hörsaal 17.01).

Die SPD-Fraktion im Stuttgarter Rathaus lädt am 14. Februar im Württembergischen Kunstverein zu einer Talkrunde über die geplante Opernsanierung ein. In diesem Kontext geht es aber auch um die Neuordnung der Kulturmeile. Beginn 19 Uhr.

Engagierte Bürger, darunter der ehemalige Nachtcafé-Moderator Wieland Backes, der Opernchef Jossi Wieler und der Architekt Arno Lederer, stellen am 16. Februar im Hospitalhof „Eine Vision für Stuttgart“ vor. Untertitel: „Von der PS-Meile zum lebendigen Kulturviertel“. Beginn 19.30 Uhr.