Die Schillerstraße in Ludwigsburg, Ende Oktober. Rotweiße Plastikgatter hüben und drüben. Sperrschilder mit dem Zusatz „Anlieger frei“, Sackgassenschilder außerdem. Auf den Zufahrten ringsum Hinweistafeln: „Verkehrsführung geändert“ nebst Dutzender gelber Markierungen, die auf dem Asphalt Richtungspfeile ausixen und die vom Gewohnten abweichende Verkehrsregelung unterstreichen. In der Schillerstraße blaue Schilder mit weißem Rad: Hier dürfen nur Radler passieren.
Eigentlich.
Denn die Autofahrer geben die knapp 300 Meter lange Schillerstraße nicht einfach so her. Die Strecke war bis zum 22. Oktober eine hoch frequentierte Ost-West-Verbindung in Ludwigsburg. Nun kurven hier Bagger herum, Kabel und Leitungen werden von einer Straßenseite zur anderen verlegt. Vier Wochen lang. Im neuen Jahr geht’s weiter. Die Kreissparkasse baut für 65 Millionen Euro, drei Jahre lang. Für Autos bleibt es eng. Noch enger als in der Martin-Luther-Straße, wo die Handwerker sich allmählich zurückziehen, ähnlich eng wie an der Solitudestraße, wo auch ein neues Carrée entsteht.
Ein Radler mit Smartphone wähnt sich sicher
Zugig ist es. Der Wind polaren Ursprungs treibt einen Radfahrer durch die Schillerstraße. Beim Pedalieren blickt der smarte Mann auf sein Phone. Offensichtlich wähnt er sich sicher, wo er sonst im Zickzackkurs an parkenden Autos vorbeimuss, Autos vor ihm und Autos im Nacken auf dem gestrichelten Radstreifen. Doch auch heute drängelt einer – Böblinger Kennzeichen, Warnblinkanlage, rollt die 300 Meter durch und biegt in die Myliusstraße ab. Anlieger ist der keiner. Dann folgen im Sekundentakt drei motorisierte Zeitgenossen auf dem Parcours. Irgendwie wirkt es, als zögen sie ihr Genick ein, schaut man in die Fahrgastzellen hinein.
An der Ecke mit der Myliusstraße ist die Autoampel zugehängt. Brav ordnet sich das Trio der Radlersignalanlage unter und gibt Gas, als sie Grün zeigt.
Ein Lieferwagenfahrer übt wie im Fahrunterricht
Ein Fed-Ex-Lieferant wiederholt seine Fahrstunden. Immerhin, er entdeckt urplötzlich das Sperrschild (für Vergessliche: roter Kreis um weiße Fläche) und wendet sein Vehikel. Er stößt mit dem Heck auf den Radweg zurück, verhindert knapp den Zusammenstoß mit einem betagten Biker und absolviert die Wende in drei, nein, doch in fünf Zügen. Ein E-Autofahrer (!) macht’s ihm nach, schafft’s in drei Versuchen und rollt lautlos von dannen. Und so weiter, ohne Unterlass.
Dann hat ein Waiblinger seinen vorschriftswidrigen Gastauftritt. Der Mann, Kippe linker Mundwinkel, größerer Mercedes, kurvt irritiert durch die gesperrte Straßenflucht. Als die Engstelle auftaucht, bugsiert er seinen Kombi mit knautschenden Reifen über den Gehweg und vollendet den etwas anderen U-Turn.
Die beiden Polizisten tags zuvor hätten das ausladende Manöver wohl nicht so freundlich begleitet. Doch als die Ordnungshüter bei der Gartenstraße Posten beziehen, pocht kein Autofahrer auf das Recht auf freie Fahrt für freie Bürger. Eine Ermahnung, Rückwärtsgang und Aufatmen – kein Knöllchen. Die Uniformierten lassen Toleranz walten, obwohl Ignoranz eigentlich nicht vor Strafe schützen sollte.
Hader richtet sich gegen die Stadt
Helmut Pudel indes fühlt sich bestraft. Der Orthopädieschuhtechniker in der Schillerstraße sieht „drei schwere Jahre mit Einbußen“ vor sich. Einige Kunden mieden schon sein Geschäft – trotz Parkplätzen ums Haus. Ein hartes Brot nach 25 Jahren Anliegerdasein. Und ein wenig richtet sich sein Hader gegen die Stadt. „Die wissen selbst nicht, wie sie den Verkehr hier regeln wollen“, sagt Pudel.
Roswitha Matschiner, einst erste Kämpferin für passable Radwege in der Barockstadt, verbindet mit der Baustelle eine kleine Hoffnung. Über die Schillerstraße radeln Schüler zum Unterricht. Als Radkulturstadt sollte Ludwigsburg anno 2023 dieser Klientel hier sicheres Fahren ermöglicht haben. Zumindest hätte dann das jetzige Chaos etwas Gutes.
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Gute Frage
Chaos ist ein gutes Stichwort. Murks eine ähnliche Vokabel. Denn was die Planer geritten hat, den Verkehr über die schmale Busroute Myliusstraße zum Bahnhof und zum Schillerdurchlass umzuleiten, ist kaum zu begreifen. Freilich: Hat nicht die eigene Blechkarosse unsereins beim Aussteigen kürzlich ermahnt, das Smartphone nicht zu vergessen? Was die Karre von der Intelligenz seines Besitzers hält, dürfte damit auch klar sein.