Vor drei Jahren sorgte die damals 17-jährige Helene Hegemann mit „Axolotl Roadkill“ für Furore. Mit ihrem zweiten Buch will sie die Zweifel an der Jungautorin hinter sich lassen.

Berlin - Helene Hegemann schnippt die Asche ihrer Kippe auf den Steinboden. Sie sitzt im gartenartigen Hinterhof des Sale e Tabacchi in Berlin-Mitte, wie so oft fällt das absichtlich schlampig gescheitelte Haar über ein Auge, und einen Moment lang könnte man denken: wahnsinnig coole Jungautorin.

 

Aber da sind die Augen, Scanner, die die Umgebung abtasten, vorsichtig, die auf alles achten, oder eher: auf alle. Hegemanns Hund Charly, kniehoch, reizendes Stadtfuchsgesicht, nicht gerade furchterregend, bellt ein bisschen. „Entschuldigung“, sagt Helene Hegemann. Ihre Augen schauen sorgenvoll auf die wenigen Gäste in der Nähe, hoffentlich ist keiner erschrocken. Der Kellner kommt, gebeugt, verschwitzt, irgendwie verhärmt, besonders brummig, er schimpft ernsthaft wegen der Asche auf dem Boden. „Sorry, ich hab nicht drauf geachtet“, sagt Helene Hegemann. Ihre Augen folgen ihm, auch später noch. Sie verlässt das Lokal nicht, ohne herausgefunden zu haben, was den Mann bedrückt.

Vor drei Jahren stürzte sich die Kritik auf sie

Es ist jetzt gut drei Jahre her, da wurde Hegemann, damals noch keine 18, genau als die coole Jungautorin erst gefeiert und dann nahezu verbrannt oder gevierteilt oder was man sonst so in deutschen Feuilletons mit jungen Frauen macht, die sich nicht an die Regeln der gesetzteren Herren im Literaturhochbetrieb halten, sondern Dinge aufschreiben, die sie bewegen.

„Axolotl Roadkill“ hieß ihr Roman. Das war die Geschichte der 16-jährigen Mifti, die durch die Berliner Nacht streift und sich allem, was man tun kann und was die Mehrheit bleiben lässt und daher aus Büchern einsaugt, mit selbstzerstörerischer Inbrunst widmet: Mifti nimmt Drogen, hat harten Sex mit nahezu Fremden, liebt eine 30 Jahre ältere Frau, hat Angst vor Nähe und ist vor allem sehr viel im Club Berghain unterwegs.

Hegemanns Debüt über eine Figur, deren Versuche einer Revolte in einer permissiven Welt zum Scheitern verurteilt sind, wurde zunächst vor allem gefeiert – als „literarische Sensation“, als „großer Coming-of-Age-Roman der Nullerjahre“ –, und natürlich beschäftigte sich jede Eloge mit dem Umstand, dass die Autorin erst 17 Jahre alt sei. Wie kann ein so junger Mensch auf solche Erfahrung zurückgreifen? Wie viel Mifti steckt in Hegemann? Diese Fragen schienen die Fantasie mancher Kritiker fast ebenso zu befeuern wie die Wucht von Hegemanns Sprache. Und vielleicht war auch deshalb die Wut so groß, als klar wurde, dass die Autorin ihre Erfahrungen nicht nur gemacht oder sich angelesen oder erfunden, sondern auch in kleinen Teilen gestohlen hatte: Sätze und Passagen des Buches waren von anderen Autoren, vor allem vom Berliner Blogger Airen abgeschrieben. Es folgten journalistische Hinrichtungen nach einer wilden Plagiatsdebatte, in der Hegemann sich dafür entschuldigte, die Beklauten nicht erwähnt zu haben, aber ihre Art der intertextuellen Arbeit verteidigte: „Originalität gibt es sowieso nicht, nur Echtheit.“

Schreiben, um die Miete zahlen zu können

Drei Jahre liegen hinter ihr, ein Stipendium in der Villa Aurora in Los Angeles, ein selbst produziertes Theaterstück, und derzeit die Arbeit an ihrer ersten Oper, einige Rezensionen in Zeitungen. Und jetzt also: „Jage zwei Tiger“, Hegemanns zweiter Roman, er erscheint heute.

„Ich musste ja ab und zu Miete zahlen“, sagt die 21-Jährige sehr beiläufig, wenn man sie fragt, wie der Entschluss zustande kam, ein zweites Buch zu schreiben. Ein Satz mit eingebauter Verletztheitszurückweisung. Sie fährt sich durchs Haar, raucht, trinkt einen Schluck Kaffee, streichelt den Hund, schaut flügelschlagschnell immer wieder ihr Gegenüber an, währenddessen redet sie rasch, ziemlich leise, fast ein bisschen getrieben. Es klingt sehr heiter, wenn sie sagt: „Ich habe so fröhlich vor mich hingeschrieben“, und dann erzählt, dass eben diese ersten Seiten herauskamen, zu denen sie „einen extremen Zugang“ hatte.

Es gibt Kai auf diesen ersten Seiten, einen elfjährigen Jungen, der im Auto seiner Mutter auf der Rückbank sitzt. Jugendliche werfen einen Stein von einer Autobahnbrücke, die Mutter wird davon erschlagen – ein Roadkill. Kai kann sich aus dem Wrack retten, er überlebt, trifft im nahen Wald einen Zirkus und lernt dort Samantha kennen, 14 Jahre alt, die, wie sich für die Leser herausstellen wird, die Steinewerfer animiert hat.

Manchmal unterhaltsam, häufig schmerzhaft

So könnte ein moderner Teenie-Abenteuerroman beginnen, aber „Jage zwei Tiger“ ist ein Buch geworden, in dem es ums Überleben angesichts der Katastrophen geht, die einem in einer Welt passieren können, die immer so tut, als sei das Leben wirklich planbar und jeder irgendwie seines Glückes Schmied. Das Schöne in dem Buch: es geht auch um die leise Möglichkeit menschlichen Trostes, wenn man sich standhaft dagegen wehrt, einfach an Kummer und Einsamkeit zu verrecken.

Da ist Kais Vater, emotional verwahrlost, drogenabhängig, voller Liebeskummer, der seinem ihm nun plötzlich zugewiesenen Sohn erklärt, dass er ihm kein fürsorglicher Vater sein kann. Und da ist Cecile, essgestört, die zweite Hauptfigur, ausgestattet mit stinkreichen Eltern, die ihr Kind per SMS zum Abendessen in der 120-Zimmer-Villa rufen.

Hegemann setzt, wie schon in „Axolotl Roadkill“, ihre Leser einer sprachlichen Wucht aus, die manchmal unterhält und sehr häufig schmerzt. An manchen Stellen erlebt man theaterhaftes Kopfkino mit einer kalkulierten, ausgestellten Beschreibung, es sind die schwächsten des Romans. Am Ende – nach einer Apokalypse, nach fiesem grünem Licht überall – überleben Kai und Cecile als Paar. „Die Grunderfahrung, die sie machen, ist, dass sie überleben können – das geht sehr weit weg von diesem Selbstverwirklichungsexzess unter der Überschrift ‚ich bin mein eigener Herr‘“, sagt die Autorin.

Die Angst, missverstanden zu werden

„Was ich nach wie vor habe, ist eine fundamentale Angst, missverstanden zu werden“, sagt Helene Hegemann zu der Frage, mit welchen Reaktionen sie diesmal rechnet, um dann schnell weiterzusprechen: „Ach, aber was soll einem schon groß passieren.“ Sie hat sie noch, die Erinnerungen an diese seltsame Wut auf ihr Debüt und sagt dazu heute, sie habe offensichtlich in der öffentlichen Wahrnehmung nicht sympathisch funktioniert. „Es tangiert mich nicht mehr im Geringsten. Es liegt zu viel dazwischen. Außerdem entwickelt man im Laufe von so was relativ schnell einen gewissen Humor. Ohne den würden wir ja sowieso schon alle tot überm Zaun hängen.“

Da ist er wieder, dieser Ton. Er spricht nicht nur von der Angst, missverstanden zu werden, sondern auch davon, wie sehr Helene Hegemann sich vor der Wiederholung der Erfahrung fürchtet, die sie bei ihrem Debüt gemacht hat: Fasziniert suchte die Kritik nach der autobiografischen Nähe zwischen ihr und ihrer Hauptfigur und natürlich auch nach Ähnlichkeiten zwischen anderen fiktiven und realen Gestalten. Diese Art der Suche, vermischt mit dem vergifteten Lob für ein sogenanntes Wunderkind und Fräuleinwunder der Literatur, hat die Autorin immer als eine Mischung verstanden, die ihre Arbeit kleinmacht und eigentlich neutralisiert.

Wie wird „Jage zwei Tiger“ aufgenommen werden?

Natürlich wird auch bei „Jage zwei Tiger“ wieder darüber gesprochen werden, dass Helene Hegemann die Tochter des Dramaturgen Carl Hegemann ist, die bei ihrer Mutter im Ruhrgebiet aufwuchs, die vor ihren Augen an einem Aneurysma starb. Sie lebte beim Vater und war, wie sie von sich sagt, nicht in der Lage, sich den Strukturen auszusetzen. Sie verweigerte die Schule, verbrachte ihre Tage an der Volksbühne Berlin, las viel und begann zu schreiben – erst ein Theaterstück, dann das Drehbuch zum preisgekrönten Film „Torpedo“ und dann ihr erstes Buch.

Wenn man Helene Hegemann danach fragt, was ihr eigenes Leben mit dem zu tun hat, was sie schreibt, dann sagt sie betont kühl und fast zum Verschlucken schnell zwischen zwei Zügen an ihrer Zigarette: „Natürlich habe ich einen extremen Zweifel an allem entwickelt, was mich umgab, einfach aufgrund dessen, dass was Fundamentales weggebrochen war.“

Den Roman „Jage zwei Tiger“ kann man, ohne all das zu wissen, lesen – und für ein gutes, ergreifendes Buch halten.