An der Stuttgarter Staatsoper hat Demis Volpi Benjamin Brittens Oper „Tod in Venedig“ in Szene gesetzt. Die Feier der Schönheit setzt sich über die anstößigen Momente des auf einer Novelle von Thomas Mann basierenden Stücks hinweg – vielleicht mehr als angemessen wäre

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Jedenfalls ist hier Päderastie annehmbar für den gebildeten Mittelstand gemacht“, schrieb der Kritiker Alfred Kerr, nachdem er 1912 Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ gelesen hatte. Messerscharf hatte Kerr erkannt, dass hier vom hyperraffinierten Autor ein durchtriebenes Spiel gespielt wurde. Zweifellos stecken viele existenzielle Mannsche Dispositionen in der Figur des Vaters und Witwers Gustav von Aschenbach, jenem Münchner Schriftsteller, der in einer Lebenskrise nach Venedig fährt, sich dort in einen vierzehnjährigen polnischen Jungen verguckt und dann vor Ort an der Cholera stirbt. Abgehandelt aber wird die Erzählung in einem absolut künstlichen, Goethe übersteigernden sprachlichen Duktus. Ein Ego-, Eros- und Todestrip als pure Gedankenspielerei. Und selbstverständlich wird nur geschaut, nicht angefasst.

 

Keiner, das war die poetologische Kunstfertigkeit, die Kerr sofort auch als vollendete Perfidie erkannt hatte, vermochte hernach Thomas Mann zu unterstellen, er spreche da von der eigenen Realität, zumindest nicht konkret. Mann vertraute darauf, dass die verschraubte Form den Stoff bändige. Die gebildeten Stände taten sich folglich vergleichsweise leicht mit dieser im Kern ungeheuerlichen Geschichte, was dem Verfasser dann aber auch wieder nicht ganz recht war: „Eine Nation, in der eine solche Novelle nicht nur geschrieben, sondern gewissermaßen akklamiert werden kann“, schrieb Thomas Mann 1913, „hat vielleicht einen Krieg nötig.“ Und für den war er ja dann auch sehr. Auf dem Papier freilich und ohne sich beteiligen zu müssen.

Fantastischer Sängerdarsteller

Längerer Vorspruch, aber: man muss dies alles vielleicht doch zumindest mit bedenken, wenn man am Ende in einer vom Stuttgarter Publikum rundum begeistert akklamierten Vorstellung von Benjamin Brittens Oper „Der Tod in Venedig“ sitzt, die, neben Modulationen im Libretto von Myfanwy Piper, mit diesem Mannschen Kunstgriff arbeitet: „Wir sind“, heißt es im Programmbuchgespräch zwischen der Dramaturgin (Ann-Christine Mecke), der Bühnen- und Kostümbildnerin (Katharina Schlipf) und dem Regisseur und Choreografen Demis Volpi, „in Aschenbachs Kopf“. Aschenbachs Kopf ist, um es vorwegzunehmen, der, den der fantastische Sängerdarsteller Matthias Klink am Schluss kurz schüttelt, als er nicht etwa stirbt, wie es im Buche steht, sondern hellwach ins Große Haus hineinschaut. Als habe er alles nur geträumt und wundere sich, was einem im Traum nicht alles unterkommen kann: bluttriefende mythologische Gestalten, pompöse indische Ansichten wie von den schwulen Pop-Künstlern Pierre et Giles erfunden, viele Knaben in knappsten Badehosen (von der John Cranko Schule)und etliche Versehrte und Siechende wie aus Zombie-Filmen. Aber von vorn.

An Gustav von Aschenbach, zu Beginn von Brittens musikalisch vielgestaltiger, handwerklich blendend gut gefertigter Oper buchstäblich von Bücherbergen auf der Stuttgarter Bühne verschüttet, ist lange Zeit eigentlich kein Zeichen von Verfall zu sehen. Meint man in Luchino Viscontis stets hoch gehandeltem Film mit Dirk Bogarde schnell den Moder und die Fäulnis Venedigs (und Aschenbachs) förmlich zu riechen, so schützt sich die Stuttgarter Inszenierung, eine Gemeinschaftsproduktion von Oper und Ballett, durch die sportlich-asketische Erscheinung ihres Protagonisten und ein Bühnenbild, das keinen Realismus kennt, gerne ins Surreale driftet: Venedig bleibt hinter Plexiglasscheiben draußen, die Gondeln sind Hotelgepäckträger, Lido und Lagune müsste man sich denken. Zwischendurch vergisst man’s. Matthias Klink spielt Aschenbach als visuell, intellektuell und erotisch ausgehungerten Menschen, zunächst in schwarzem Rollkragenpullover und dunklem Anzug, ein wenig hohepriesterlich auch, im Habitus fast wie ein Stefan George auf dem Sprung.

Vor allem einen Mannschen Gedanken macht sich die Produktion zu Eigen. Es sind Sätze, die in der Novelle fallen, als der junge Tadzio durch eine Glastür in den Raum kommt, Verheißung und Unheilsgrund zugleich: „Gut, gut! dachte Aschenbach mit jener fachmännisch kühlen Billigung, in welcher Künstler zuweilen einem Meisterwerk gegenüber ihr Entzücken, ihre Hingerissenheit kleiden.“ Man kann, in einem Wort, mit allem Material im Sinne der Schönheit (Brittens Lebensthema) spielen. So gesehen lässt die Regie Aschenbach von der Leine, und der Tenor Matthias Klink mit seinem Bariton-Pendant Georg Nigl (von Britten in gleich acht Rollen besetzt), singen und spielen mit höchstem Ausdruck und schon fast beängstigend facettenreich ihre Partien, als hätten sie jeweils nur diese Rolle und nur einen Bühnenlebenabend. Es gibt keinen Stillstand, keinen unmotivierten Gang und erst recht keine Pose. Sehr flexibel im Zeitmaß, dabei ungeheuer präzise, offeriert der Dirigent Kirill Karabits Ensemble, Staatsopernchor und dem höchst transparenten Staatsorchester dabei unentwegt alle Möglichkeiten. Analog entwickelt die Bühnenbildnerin Katharina Schlipf ein eigenständiges Zeichensystem, das sich nicht nur im Zitat erschöpft. Machtvoll dräuen neben dem dionysischen Albtraum Aschenbachs Bilderzitate von Daniel Richter auf die Szene, die von einer golden lackierten apollinischen Figur konterkariert werden.

Künstlerische Kopfgeburten

Der hohe artifizielle Grad hat umgedreht seinen Preis. Hinter den Bildern, schwarz-weiß grundiert, dann häufig ins Überbunte, Gelackte explodierend, verschwindet oft die eigentliche Botschaft: Wer ist Aschenbach wirklich? Zerrissener als Klink ihn darstellt, kann man ihn kaum spielen. Doch was zerreißt ihn? Dass er ist, wer er ist? Nicht sein kann, wer er sein will? Oder ist es nur: eine Story halt.

Demis Volpi, und womöglich löst dies ein gewisses Unbehagen aus, bietet den „Tod in Venedig“, ein Werk, das Brittens Lebensgefährte Peter Pears nicht von ungefähr eine „teuflische Oper“ nannte, als einwandfrei kommensurables Stück an. Das heißt: er geht nirgendwo auf Distanz oder wenigstens Minimalabstand. Seine Erzählung ist gradlinig, von Faszination erfüllt. Es ist, so kompliziert es teilweise ausschaut auf der Bühne des Stuttgarter Großen Hauses, vielleicht alles ein bisschen zu einfach gedacht dann doch: „Der Tod in Venedig“ als Stück, das sich heute noch hingegeben spielen lässt, wenn man nur eine großartige Besetzung dafür hat. Ein Text von 1912, eine Vertonung von 1973. Am Ende ist es so simpel wohl nicht, denn hundert Jahre, später, im Internetzeitalter zumal, weiß man, dass die künstlerischen Kopfgeburten häufig nicht nur Kopfgeburten waren, sondern Opfer hervorgebracht haben; unschuldige Opfer, zahlreich. Wer das mit einbezieht hat mitunter seine Probleme mit der ästhetisch erhabenen und sich selbst teils genial, doch auch genügsam spiegelnden Stuttgarter Produktion von Benjamin Brittens „Der Tod in Venedig“.