Den Reigen der Stars in Berlin beschließt Robert Pattinson. Einen Bären wird er nicht mitnehmen können – sein Film läuft außer Konkurrenz.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Berlin - Kleine Mädchen haben manchmal Riesenkräfte: um neun Uhr morgens versammeln sich die ersten von ihnen an den Absperrgittern zum roten Teppich vorm Berlinale-Palast, auf dem zehneinhalb Stunden später ihr Held Robert Pattinson vorbeispazieren soll. Pattinson, der gute, weil hochgradig affektkontrollierte Vampir aus der „Biss . . .“-Blockbusterreihe, schließt den Reigen der Stars, die in diesem Jahr den Filmfestspielen besonderen Glanz verleihen. Die britische Produktion „Bel Ami“, war am Freitagabend der 24. von insgesamt 25 Filmen in der wichtigsten Berlinale-Programmsparte, dem Wettbewerb.

 

Im Mittelpunkt des Romans „Bel Ami“ von Guy de Maupassant aus dem Jahr 1885 steht ein junger Mann, der eigentlich arm und dumm, aber auch schön und charmant ist und sich darum in der guten, also ausreichend korrupten Pariser Gesellschaft hochzuschlafen weiß. Die Besetzung einer solchen Rolle mit dem Schönling Robert Pattinson könnte man nun schlicht als Coup der Produzenten mit Blick auf die millionenstarke Fangemeinde betrachten, was er zweifellos auch ist.

Eine spannende Literaturverfilmung

Aber Pattinson kann als Schauspieler doch eben deutlich mehr, als ihm seit einigen Jahren in dem reaktionären mormonischen Vampirschmock abverlangt wird. Er gibt seinem „Bel Ami“ von Anfang an jenen Schmerz, mit dem Armut noch jeden Menschen zeichnet, aber auch jene Verachtung, die jeder verspürt, der das vornehme Getue der Nicht-Armen in seiner Theaterhaftigkeit durchschaut hat. Die beiden Theaterregisseure Declan Donnellan und Nick Ormerod präsentieren hier ihren ersten Kinofilm und legen auf Anhieb eine stimmige und spannende Literaturverfilmung vor. Und da neben Pattinson Uma Thurman, Kristin Scott Thomas und Christina Ricci mitwirken, ist beim Einsatz an der Kinofront für ausreichend Publikum zweifellos gesorgt.

Es war bis zum letzten Tag ein starker Wettbewerb in diesem Berlinale-Jahr. Die Jury unter Vorsitz des britischen Regisseurs Mike Leigh wird eine Weile brauchen, um zur Abschlussgala am Samstagabend ihre insgesamt acht Preise stimmig auf die achtzehn Bewerberfilme (die übrigen Beiträge liefen „außer Konkurrenz) zu verteilen.

Das ganz Spektrum, was Kino bieten kann

Es sind achtzehn völlig unterschiedliche Filme zu bewerten, die fast das ganze Spektrum dessen abdecken, was Kino alles bieten kann. Da gab es Historiendramen wie das französische Marie-Antoinette-Spektakel „Leb wohl, meine Königin!“ zum Auftakt sowie zum Schluss hin die noch einen Tick opulentere dänische Skandalchronik „Die Königin und der Leibarzt“ von Nikolaj Arcel; es geht darin um den Versuch des deutschen Freigeistes Johann Friedrich Struensee Ende des 18. Jahrhunderts, mittels Aufklärung das dänische Volk und mittels gutem Sex die dänische Königin glücklich zu machen. Schöner Film. Aber kein Bärenalarm.

Neben derlei farbsatten Hofgeschichten stand die hehre Filmkunst, die mit Sicherheit auch bei den Preisen vertreten sein wird. Große Chancen hat der portugiesische Film „Tabu“ von Miguel Gomes, eine überaus ruhig – man könnte sagen poetisch, man könnte aber auch sagen: hochgradig einschläfernd – erzählte Liebesgeschichte aus nostalgischen Schwarz-Weiß-Kolonialzeiten. Viele Kritiker zeigten sich über den Film entzückt, weil er gespickt ist mit filmhistorischen Zitaten, was Kritiker ja stets entzückt, da beim Entschlüsseln von derlei Zitaten ihr jahrelanger Aufenthalt in abgedunkelten Kinosälen endlich mal Früchte trägt.

Wesentlich entspannter und tatsächlich poetisch kam dagegen „Postkarten aus dem Zoo“ des indonesischen Regisseurs Edwin von der Leinwand. Er beobachtet ein Mädchen, das in einem Tierpark aufwächst, von einem hübschen Zauberer in die Stadt gelockt wird und dort schließlich in einem Massagesalon landet. Jawohl: „landet“. Keineswegs: „endet“. Krude Geschichte, wunderschöne Bilder.

Schwerverbrecher spielen Shakespeare

Nächste Abteilung: das Politkino. Ein großes Festival braucht Filme wie „Nur der Wind“, in dem der Ungar Bence Fliegauf von den Massenmorden an Roma-Familien in seinem Land erzählt. Oder „Rebelle“ von Kim Nguyen, einem Kanadier mit vietnamesischen Wurzeln: die bestürzende Geschichte einer elfjährigen Kindersoldatin irgendwo in Afrika. Solch engagierte und hochklassige Filmkunst hat jeden nur denkbaren Preis verdient – den man dafür gern in der Abteilung Veteranenkino einsparen darf, vertreten in Berlin durch die Brüder Vittorio und Paolo Taviani. Sie zeigten in ihrer Pseudodokumentation „Cäsar muss sterben“, wie sich die Insassen eines Gefängnisses für Schwerstverbrecher unter dem Einfluss zweier berühmter Filmregisseure mühen, ein Stück von William Shakespeare ungefähr so gut zu spielen wie bei uns die Mimen im Schlosstheater Celle. Vorhang, bitte.

Und dann natürlich die ganzen Familiengeschichten im weitesten Sinne. Auch der dritte deutsche Beitrag, „Gnade“ von Matthias Glasner, reihte sich hier ein. Jürgen Vogel und Birgit Minichmayr spielen darin ein deutsches Paar, das in Norwegen eine Fahrerflucht zunächst erfolgreich vertuscht, dann aber mit den nötigen Folgen, nämlich Lügen und Heimlichtuerei, gar nicht klarkommt. Wie schon öfter bei Glasner ist auch seinem Film „Gnade“ von der ersten Minute an abzusehen, wie sehr die Figuren unter dem Diktat eines unglaublich anspruchsvollen und wahnsinnig durchdachten Themenkonzeptes stehen. Und deswegen können die beiden Hauptdarsteller Vogel-Minichmayr noch so sehr das große Psychotheater demonstrieren, es bleibt trotzdem an allzu vielen Stellen völlig unglaubwürdig und kryptisch, was ihre Protagonisten da treiben. (Vogel-Fans müssen aber auch in „Gnade“ auf Nacktszenen nicht verzichten).

Christian Petzold hat Chancen

Nein, wenn es um die Chancen der deutschen Filme geht, dann steht Christian Petzolds DDR-Geschichte „Barbara“ ganz vorn, in den Rankings der internationalen Presse sogar bis zum letzten Festivaltag auf Platz eins. Ob der Samstagabend für Petzolds sympathische Crew deshalb gleich golden wird, eine solche Jurywahl wäre vielleicht einen Tick zu konventionell. Aber ganz an „Barbara“ vorbeigehen wird sie mit Sicherheit nicht.

Und sage bitte niemand, es sei sowieso egal, wer auf solchen Festivals zum Schluss einen Preis bekommt, Kinoerfolg bemesse sich allein auf der nach oben offenen Pattinson-Skala. Vor genau einem Jahr hat der iranische Regisseur Asghar Farhadi mit seinem Drama „Nader und Simin, eine Trennung“ den Goldenen Bären gewonnen. Seitdem wurde er in seiner Heimat heiß diskutiert, in vielen Ländern der Welt gezeigt und geht am kommenden Wochenende mit zwei Nominierungen in die Oscarnacht. Gute Filme haben manchmal Riesenkräfte.