Vor der Preisverleihung an diesem Samstag kristallisieren sich aus einem durchwachsenen Wettbewerb einige Favoriten heraus – zum Beispiel das japanisches Anime-Meisterwerk „Suzume“ von Makoto Shinkai.
Es passt zum Gesamteindruck der 73. Internationalen Filmfestspiele, die am Samstagabend ihren feierlichen Abschluss finden, dass der Wettbewerb um den Goldenen Bären ausgesprochen durchwachsen zu Ende ging. Schwach bis verhalten waren die Filme der ersten Festivaltage gewesen, bevor sich im Laufe dieser Woche doch einige ausgesprochen gelungene Werke ausmachen ließen. Am letzten Tag war nun noch einmal ein echter Höhepunkt zu sehen – und leider auch eine Enttäuschung.
Christoph Hochhäusler, dessen großartiger Hochschulabschlussfilm vor 20 Jahren im Forum der Berlinale seine Weltpremiere erlebt hatte, kehrte mit „Bis ans Ende der Nacht“ zum Hauptstadtfestival zurück, mit seinem ersten Film seit neun Jahren und der ersten Einladung in den Wettbewerb.
Ein queerer Krimi aus Frankfurt
Der Plot ist klassische Thrillerware: Ein Polizist soll als verdeckter Ermittler das Netzwerk eines Großdealers in Frankfurt unterwandern und muss sich dafür als Freund einer aus dessen Umfeld angeworbenen Vertrauensperson ausgeben. Dass der schwule Cop Robert (Timocin Ziegler) und die Transfrau Leni (Thea Ehre) früher ein Verhältnis hatten, bevor sie womöglich durch seinen Verrat eine Haftstrafe antreten musste, verkompliziert die Sache dabei gehörig.
Die queeren Figuren im Zentrum, allen voran die gleichermaßen verunsicherte wie starke Protagonistin, sind für eine Geschichte dieser Art so ungewöhnlich wie reizvoll, und Hochhäuslers Film überzeugt zumindest, was Bildgestaltung und Soundtrack angeht. Die Figuren und ihre Konflikte bleiben allerdings zu weiten Teilen bloß Behauptung, echte Spannung will in keiner Hinsicht je wirklich aufkommen – und das Ensemble bekleckert sich leider durch die Bank nicht mit Ruhm.
Ein Publikumsliebling: der Anime-Film „Suzume“
Als Publikumsliebling, der Begeisterungsstürme hervorrief, entpuppte sich unterdessen „Suzume“, der als erster Anime-Film überhaupt im Wettbewerb der Berlinale angetreten ist. Der japanische Zeichentrick-Erfolgsregisseur Makoto Shinkai erzählt darin in spektakulären, knallbunten Bildern eine Coming-of-Age-Geschichte der übernatürlichen Art. Die titelgebende Teenager-Heldin wächst bei ihrer Tante auf der nicht nur von Erdbeben geplagten Südinsel Japans auf, als eines Tages ein ebenso hübscher wie geheimnisvoller junger Mann ihren Weg kreuzt, der in nahe gelegenen Ruinen nach einer Tür sucht. Sie folgt ihm – und stürzt sich damit in ein Abenteuer, bei dem sich bald zeigen wird, dass sie womöglich dazu auserkoren ist, die Welt zu retten.
Mit viel Witz und ordentlich Tempo, einer Menge Kawaii-Niedlichkeit zwischen Kätzchen und Kinderstuhl und vor allem einem elaboriert und detailreich gestalteten Fantasysetting fährt „Suzume“ eine Abenteuer- und Desastergeschichte auf, die mehr Handlung und Einfallsreichtum mitbringt als die meisten anderen Wettbewerbsbeiträge in diesem Jahr. Die Überwältigung, die man dabei als Zuschauer erlebt, ist am Ende aber nicht nur eine visuelle, sondern vor allem eine, die sich großen Emotionen verdankt.
Selbstfindung und Familienzusammenhalt
Man darf gespannt sein, ob sich die Juroren rund um Kristen Stewart am Ende als Anime-Fans entpuppen werden. Mit seinem Pop-und-Pathos-Appeal setzt sich „Suzume“ auf jeden Fall von der Konkurrenz ab. Den Fokus auf zwischenmenschliche Gefühlswelten von Liebe und Trauer bis Selbstfindung und Familienzusammenhalt teilt Shinkai allerdings mit den anderen Filmen, die im Rennen um die Bären besonders auffielen und sich deswegen Hoffnung auf den einen oder anderen Preis machen dürfen.
„Past Lives“ der koreanischstämmigen Kanadierin Celine Song sei hier besonders erwähnt, auch das bewegende Familien- und Abschiedsdrama „Tótem“ der mexikanischen Regisseurin Lila Aviles. Und „20 000 especies de abejas“, in dem die Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren auf sehr einfühlsame Weise von einem achtjährigen Kind erzählt, das nicht nur an dem Namen leidet, den es trägt, sondern vor allem an den Gender-Erwartungen, die damit einhergehen. Aber auch „Roter Himmel“ von Christian Petzold, der hier zuletzt vor elf Jahren den Regie-Bären bekam, hätte es verdient, am Ende nicht leer auszugehen.
Ein paar der besten Filme werden leer ausgehen
Ein paar der besten Filme im diesjährigen Berlinale-Programm waren unterdessen gar nicht in der Hauptsektion zu sehen, sondern in Nebenreihen. Fantastisch etwa ist „Passages“ von Ira Sachs, mit Franz Rogowski, Ben Whishaw und Adèle Exarchopoulos in den Hauptrollen, die feinsinnig-wahrhaftige, emotional brutale und vor allem sexy Geschichte eines Regisseurs, der seinen Mann mit einer Frau betrügt. Aber auch „Femme“ des britischen Regieduos Sam H. Freeman und Ng Choon Ping wusste zu überzeugen, ein nervenaufreibender, stylisher Rachethriller, in dem eine Dragqueen (Nathan Stewart-Jarrett) einem Fremden (George Mackay) wiederbegegnet, der sie auf der Straße verprügelt hat.
Eindrucksvoll auch der Auftritt von Sidney Sweeney, die man aus „Euphoria“ und „The White Lotus“ kennt: Sie verkörpert die Whistleblowerin Reality Winner in „Reality“, dessen Dialoge komplett dem Verhörprotokoll des FBI entnommen sind. Hätte der Film von Tina Satter seine Weltpremiere statt im Panorama im Wettbewerb gefeiert, dürfte sich der TV-Shootingstar durchaus Chancen auf den Hauptrollen-Bären ausrechnen.