Der Bertelsmann-Buchclub schließt: ein Nachruf auf ein Geschäftsmodell, das über Jahrzehnte die Schrankwände in Deutschlands Wohnzimmern sowie die Konten der Bestsellerautoren gefüllt hat.

Gütersloh - Der Werbeslogan der fünfziger Jahre „Wer lesen kann, liest Bertelsmann“ versprach nicht zu viel. Der Lesehunger der Kriegsheimkehrer und „Bildungsaufsteiger“ war gewaltig, die Schwellenangst vor Buchhandlungen nicht minder groß. Da kam der Bertelsmann-Buchclub, 1950 von Reinhard Mohn als „Lesering“ gegründet, gerade recht: Buchgemeinschaften versprachen Geborgenheit in der Gemeinschaft, Führung, Bequemlichkeit und soziale Reputation.

 

Sie nahmen die von der Masse der Neuerscheinungen überforderten Leseratten wie eine fürsorgliche Gouvernante bei der Hand und zeigten ihnen mit sanftem Nachdruck, was zum Kanon gehörte, „im Gespräch“ war oder jedenfalls die neue Regalwand zierte: „Hauptsache ’nen Haufen Leder im Schrank, alles andere ist unwichtig“, wussten die Bertelsmann-Vertreter. Man musste sich nicht von arroganten Buchhändlerinnen oder selbstherrlichen Rezensenten maßregeln lassen, sondern durfte zu Hause, in vertrauter Umgebung, aus einem literarischen Neckermann-Katalog in aller Ruhe ein „gutes Buch“ auswählen. Wer sich nicht entscheiden konnte, immerhin fast die Hälfte der Kunden, bekam jedes Quartal einen „Hauptvorschlagsband“, dank riesiger Auflagen zu einem ermäßigten Preis.

Von Kitschschmonzetten bis Dostojewski

Natürlich war es meist Mainstream-Literatur: Kitschschmonzetten von Pearl S. Buck bis Will Heinrich und Konsalik, Heimatromane von Sigrid Undset, Löns und Ganghofer, aber auch „kulturell wertvolle“ Bücher von Hemingway, Dostojewski und Thomas Mann, unverzichtbare Hand- und Sachbücher wie „Das Einmaleins des guten Tons“, „Ich sag dir alles“, „Iss und bleib gesund“ oder „Und die Bibel hat doch recht“, Kinderbücher von Enid Blyton.

Der Bertelsmann Verlag war 1835 von Carl Bertelsmann in Gütersloh als pietistischer Traktätchenverlag („Unseres Herrgotts Kanzley“) gegründet und im Dritten Reich groß geworden, aber der Lesering war im Gegensatz zu anderen Buchgemeinschaften weltanschaulich neutral: Nicht so links wie die Büchergilde Gutenberg, nicht so katholisch wie Weltbild, nicht so elitär wie die Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Der Club verstand sich als „christlich und treudeutsch“; er hatte weder Schmutz und Schund noch gar „Unterhosenliteratur“ im Programm, aber Frivolitäten wie Anne Golons „Angélique“, Harald Robbins‘ „Die Wilden“ oder Simmels „Es muss nicht immer Kaviar sein“ waren schon erlaubt.

Wenn ein Stuttgarter Buchhändler damals in einem Brandbrief an deutsche Pfarrer vor Bertelsmanns „satanistischer Produktion“ warnte, ging es nur nebenbei um Moral: Buchclubs waren die natürliche Feinde des Buchhandels; sie unterliefen die Buchpreisbindung und betrieben überhaupt literarische Planwirtschaft.

Sechs Millionen Mitglieder im Zenit des Erfolgs

Am Club kam niemand vorbei: An der Haustür, auf den Straßen, überall lauerten skrupellose Drückerbanden, um, getarnt als Jugendamtsvertreter oder hungernde Sträflinge, Eltern und selbst minderjährige Kinder mit Versprechungen zu ködern, deren Pferdefuß – das Abo mit zweijähriger Kündigungsfrist – sich erst im Nachhinein offenbarte. Die „Tricks“, deren sich die Bertelsmänner ungeniert rühmten, wären heute ein Fall für die Gerichte.

Immerhin, dank der Knebelverträge wuchsen die Bücherschrankwände – und mit ihnen freilich auch das Selbstbewusstsein und die Ansprüche der Kundschaft. So zerstörte das Geschäftsmodell Buchgemeinschaft erst den bildungsbürgerlichen Mythos des Buchs und dann sich selbst: Aus dem Verkäufer- wurde ein Käufermarkt, aus dem Goldesel Bertelsmanns ein Fass ohne Boden. Im kommenden Jahr wird der Laden geschlossen, die letzte Filiale in Gütersloh zugesperrt. Der Befund, sagt Fernado Carro, Chef der Konzerntochter Direct Group, ist „auf schmerzliche Weise eindeutig: Der Club hat keine wirtschaftliche Perspektive mehr“.

Bis in die neunziger Jahre war er noch ungezügelt expandiert: Er erweiterte sein Sortiment ständig durch Schallplatten, CDs, Filme, Spiele und Non-Book-Artikel, eröffnete Filialen in der Ukraine, China und den USA; Konkurrenten wurden plattgemacht oder aufgekauft. 1990, im Zenit seines Erfolgs, hatte allein der deutsche Bertelsmann-Club sechs Millionen Mitglieder und 320 Filialen. Danach ging es nur noch bergab. Das Publikum wollte sich nicht länger gängeln lassen und dauerhaft binden, die Closed-Shop-Mentalität nahm sektenähnliche Züge an, die Volatilität des Buchmarkts wuchs, und dann kam auch bald schon der Online-Buchhandel, Amazon und die E-Books.

Kein Modell für jüngere Leser

Bertelsmann versuchte das Ruder noch einmal herumzureißen: Autorenbeiräte mit Hellmuth Karasek und Walter Kempowski wurden eingerichtet, eigene Schriftsteller wie Katia Fox und Nora Roberts protegiert, das Filialnetz mit Café-Ecken, pinkfarbenem Design und digitalen Kiosken nachgerüstet. Aber alles war vergebens.

Nachdem die Mitgliederzahl zuletzt auf eine Million geschrumpft war, zog die Konzernmutter jetzt die Reißleine. Nach der Brockhaus-Enzyklopädie macht der Gütersloher Multimediariese Bertelsmann jetzt auch einem zweiten Denkmal der deutschen Buchkultur den Garaus.

Vor allem jüngere Leser können mit dem Modell der Buchgemeinschaft nichts mehr anfangen. Aber ein wenig Wehmut und Bedauern darf doch sein. Der Buchclub war einmal Heimat und Volkshochschule, Lotse und Durchlauferhitzer für Millionen Leser in Deutschland. Nicht ganz zu Unrecht bezeichnete Hermann Wolf ihn 1964 als „stabilisierendes Element des Buchbetriebs“: Niemand solle herablassend oder gar verächtlich von den „unverbildeten“ Lesern sprechen, die sich, fernab der Sensationen des Tages, eine naive Freude am Lesen bewahrt hätten. Der Bertelsmann-Club war einmal so etwas wie der VW-Käfer des Literaturbetriebs, altmodisch solide, zuverlässig, massenhaft bewährt. Jetzt ist er nur noch sein Goggomobil: eine nostalgische Reminiszenz an die Nierentisch-Ära, als man mit vorsortierter Literatur, Dreipunkte-Büchern, Treue- und Freundschaftsprämien noch Gemeinschaft stiften und die Konkurrenz neuer, schnellerer Medien abwehren konnte.