Schüler der Ellentalgymnasien lassen Zeitzeugen zu Wort kommen – bald sind auch Interviews von ihnen als Videoclips im Internet zu sehen.

Bietigheim-Bissingen – Sofie Scheibe ist 99 Jahre alt. Sie hört nicht mehr ganz so gut wie früher und benutzt inzwischen einen Gehstock. Aber ihr Gedächtnis funktioniert hervorragend – und sie erinnert sich gern. Es bedurfte keiner großen Überredungskünste, um sie für das Projekt „Stadtgeschichte – Erlebe Deine Stadt im Wandel“ an den Ellentalgymnasien zu begeistern. Am Montag wurde sie in einem professionellen Studio-Lastwagen auf dem Schulgelände interviewt – und ist nun bald in einem Videoclip auf im Internet zu sehen.

 

Sofie Scheibe ist eine von sechs Zeitzeugen, die gestern in dem mobilen Studio des Vereins Gedächtnis der Nation interviewt wurden. Die Gespräche, die zum Teil von Schülern selbst, zum Teil von professionellen Moderatoren geführt wurden, sind gewissermaßen die Fortführung des Seminarkurses zur Stadtgeschichte, an dem 16 Schüler der Ellentalgymnasien teilgenommen haben.

Informationen, die in keinem Archiv zu finden sind

Die Schüler haben sich bereits ein Jahr lang mit jeweils einem Thema Bietigheim-Bissingens beschäftigt und es historisch beleuchtet. Dazu wälzten sie nicht nur Geschichtsbücher und durchforsteten alte Quellen, sondern sprachen vor allem mit Menschen, die die vergangenen Tage hautnah miterlebt haben: mit Zeitzeugen. Dabei seien unter anderem Informationen ans Licht gekommen, die in keinem Archiv zu finden seien, sagt Christian Jung, der Abteilungsleiter für geisteswissenschaftliche Fächer an den Ellentalgymnasien und Leiter des Seminarkurses. Genau das sei das Faszinierende an der Arbeit mit Zeitzeugen – insbesondere bei Themen, zu denen nur eine beschränkte Quellenauswahl zur Verfügung stehe. Zwar seien die Aussagen stets von individuellen Erfahrungen geprägt und nicht im gleichen Maße historisch nachprüfbar wie andere Quellen, „aber man geht davon aus, dass es so gewesen sein könnte, wie es erzählt wird“, erklärt der Historiker die Methode.

Mit dem Projekt wolle die Schule junge Menschen für geschichtliche Themen begeistern, sagt Christian Jung. Das scheint zu klappen. Er habe sich zwar ohnehin für Geschichte interessiert, erklärt Nico Fabian. Aber dass sein Beitrag zum Weinbau im Wandel in der Stadt Bietigheim-Bissingen nun noch in einem Buch erscheinen soll und er obendrein bei einem Interview im Studio-Lkw helfen darf, hat den 18-jährigen Schüler zusätzlich zur Teilnahme an dem Seminarkurs motiviert.

Buch der Schülerarbeiten erscheint im Herbst

Das Buch soll voraussichtlich im Herbst erscheinen und wird die Zusammenfassungen der Projektarbeiten aller Seminarteilnehmer beinhalten: von der Geschichte des Bietigheimer Viadukts über Sagen und Legenden bis hin zu Hintergrund und Wandel der Straßennamen in der Stadt. Das Buch werde einen populärwissenschaftlichen Ansatz haben, sagt Christian Jung: „Es soll für jeden lesbar sein“, erklärt er. Schließlich sei die Erinnerung ein hohes Gut.

Das unterstreicht auch der Oberbürgermeister Jürgen Kessing. Zwar habe sicher jeder beispielsweise schon etwas vom Krieg gehört, aber nach einer bald 70 Jahre währenden Friedenszeit im Land könnten sich Jüngere heute wohl kaum mehr vorstellen, welche Gräuel ein Krieg mit sich bringe. Er finde es gut, wenn sich junge Menschen mit solchen Themen intensiver auseinander setzen, so Kessing. Letztlich dürften nicht nur die Schüler von dem Projekt profitieren: „Es tut richtig gut, noch einmal zurück zu blicken“, sagt Sofie Scheibe.

Das Gedächtnis der Nation

Verein
: Der gemeinnützige Verein Unsere Geschichte – Das Gedächtnis der Nation wurde 2006 von Fernseh- und Printjournalisten gegründet, Initiatoren waren unter anderem Guido Knopp vom ZDF und Hans-Ulrich Jörges vom „Stern“. Ziel des Vereins ist die historische Aufklärung und die Vermittlung eines multiperspektivischen Geschichtsbildes. Erinnerungen an historische Ereignisse und persönliche Erlebnisse sollen bewahrt und einem breiten Publikum – insbesondere nachfolgenden Generationen – zur Verfügung gestellt werden, teilt der Verein mit. Das geschieht vor allem mit Hilfe von Videoclips von Zeitzeugeninterviews auf einer interaktiven Online-Datenbank (www.gedaechtnis-der-nation.de). Neben den Interviews, die von geschulten Redakteuren geführt werden, können Zeitzeugen ihre Erinnerungen auch selbst aufnehmen und den Clip als Youtube-Video auf die Internetseite des Vereins stellen.

Jahrhundertbus:
Ein Team des Vereins ist regelmäßig mit einem mobilen Aufnahmestudio unterwegs und hält auf der Tour quer durch Deutschland in verschiedenen Städten. In diesem Jahr liegt der Schwerpunkt auf den Schicksalsjahren der deutschen Geschichte 1914 (Beginn des Ersten Weltkrieges), 1939 (Beginn des Zweiten Weltkrieges), und 1989 (Ende des Kalten Krieges). Deshalb werden vor allem Hundertjährige interviewt, die fast alle Wendepunkte des 20. Jahrhunderts erlebt haben. Aber auch Jüngere werden nach Angaben des Vereins befragt – allerdings vor allem danach, wie sie die Zeit vor und nach der Wende im Jahr 1989 persönlich erlebt haben.