Der erdrutschartige Zerfall beim FC Bayern nimmt immer größere Dimensionen an. Zugleich erhöht der angezählte Kahn den Druck auf die überforderten Spieler.

Am Sonntag mussten sie beim FC Bayern feststellen, dass es aus ihrem Albtraum gerade kein Erwachen gibt. Auch die jüngsten Episoden des nicht enden wollenden Abschwungs waren ja wirklich alle passiert: Erst hatte es die 1:3-Niederlage nach einer 1:0-Führung beim selbst ernannten Karnevalsverein 1. FSV Mainz 05 gesetzt. Nur drei Stunden später kam der Verlust der Tabellenführung in der Bundesliga an Borussia Dortmund hinzu, das am Sonnabend 4:0 gegen Eintracht Frankfurt gewonnen hatte und nun mit einem Punkt Vorsprung auf die Münchner an der Spitze steht, fünf Spieltage vorm Saisonende.

 

Wie Sand durch die Hände

Nicht Tabellenführer zu sein zu diesem Zeitpunkt, das haben sie beim FC Bayern zuletzt vor elf Jahren erlebt, ehe der BVB letztmals Meister wurde. Angereichert wird das Gefühl der Münchner, gerade ohnmächtig einen realen Albtraum zu durchleben, von ihrem jüngsten Aus in den Viertelfinals des DFB-Pokals gegen Freiburg und der Champions League gegen Manchester City. Nun droht ihnen neben den Spielen und Punkten auch noch ihr letztes Titelziel zu entgleiten „wie Sand durch die Hände“, so beschrieb es Trainer Thomas Tuchel.

Für weiteres Aufsehen sorgte Oliver Kahn, der Vorstandsvorsitzende der Münchner, durch sein am späten Sonnabend ausgestrahltes ZDF-Interview. „Für mich gibt es nur ein einziges Ziel: diese Saison rumzubringen, und zwar mit dem deutschen Meistertitel, und dann nächste Saison noch mal richtig anzugreifen“, sagte Kahn. Der auch intern immer mehr in die Kritik geratene AG-Chef des FC Bayern denkt demnach nicht an einen Rückzug. Vielleicht kommt man ihm da bald zuvor. Kahns Absetzung soll im Verein angeblich konkret erwogen werden.

Gesichert ist: Es wird auch im Club intensiv diskutiert über Kahn, seinen Führungsstil und seine Entscheidungen mit Sportvorstand Hasan Salihamidzic. Erst im Sommer 2021 hatte Kahn die Nachfolge des langjährigen Vorstandschefs Karl-Heinz Rummenigge angetreten. Bei Herbert Hainer klang in Mainz an, dass es keine Tabuthemen mehr gibt. „Wir konzentrieren uns erst einmal auf die deutsche Meisterschaft. Das wird schwer genug“, sagte der Präsident, „über alles andere reden wir dann später.“ Hainer ist zugleich Vorsitzender jenes Aufsichtsrats, der über den Vorstand wacht. Im Aufsichtsrat sitzt auch Hainers immer noch mächtiger Freund Uli Hoeneß. Es darf als gesichert gelten, dass sich Hoeneß gerade sehr um sein Lebenswerk FC Bayern sorgt.

Erst vor einem Monat war Tuchel als Nachfolger des entlassenen Julian Nagelsmann verpflichtet worden. Nun hat Tuchel nach nur zwei Siegen, drei Niederlagen und zwei Remis einen schlechteren Start erlebt als Sören Lerby 1991. Der Däne ist der einzige Bayern-Coach in der Vereinsgeschichte mit einer negativen Bilanz. Er findet immer dann Erwähnung, wenn es einer Referenzgröße fürs Scheitern bedarf. Dass es nun ausgerechnet mit dem hoch angesehenen Fußballlehrer Tuchel derart dahingeht, erzählt viel über die Dimension jener Erosion, die sich beim FC Bayern gerade vollzieht.

Nichts und niemand scheint derzeit in der Lage zu sein, diesen erdrutschartigen Prozess aufzuhalten. „Meine Mannschaft wirkt ausgelaugt, alles wirkt schwer“, sagte Tuchel. Sich aufzulehnen, sei gerade nicht möglich. Er sagte: „Wir können nicht mehr, zumindest im Moment“, und zwar „weder mental noch körperlich“. Wie Tuchel verwies auch Offensivroutinier Thomas Müller darauf, dass in den vergangenen Wochen beim FC Bayern sehr viel passiert sei, zahlreiche außersportliche Unruhen inklusive. Ob der aktuelle Zerfall der Mannschaft auch darauf zurückzuführen sei, sei eine „interessante Frage, ich kann’s nicht sagen“, antwortete Müller, „wir sind auf jeden Fall angeknockt“.

Kommunikationsstörung

Erschwerend kommt hinzu, dass sie beim FC Bayern aneinander vorbeireden. Wie ein Hilferuf wirkt ja all das, was die wie gelähmt agierenden Spieler und ihr ratloser Trainer von sich geben. Zugleich erhöht der zunehmend einsam wirkende Kahn den Druck aufs Team weiter, immer weiter. „Zum Schluss sind es elf Mann, die da auf dem Platz stehen und die sich für die Ziele dieses Clubs einfach den Hintern aufreißen müssen“, forderte er. Auch noch den fest eingeplanten Meistertitel zu verspielen, „das wäre natürlich für uns alle eine Katastrophe“. Gesprochen worden sei genug, ergänzte Kahn. Salihamidzic ließ kurz darauf wissen, er wolle Gespräche mit den Spielern und Tuchel führen.

Der Trainer hat der Mannschaft vorerst Abstand und drei freie Tage verordnet. Müller begrüßt diese Entscheidung sehr. Aus ihm sprach die Sehnsucht nach Empathie, Wärme und Zusammenhalt. Also all das, was er in seinem Verein, dem er seit 23 Jahren angehört, gerade offensichtlich nicht findet.