Er war ein streitbarer Politiker, ein kantiger Regierungspräsident. Heute ist Manfred Bulling 83 und noch immer ein wacher Beobachter. Teil 8 der Serie „Blick zurück“.

Region: Verena Mayer (ena)

Schwieberdingen - Das Spätzle sieht nicht gut aus. Genauso lang wie die anderen, genauso dünn. Da erkennt man gleich: nicht handgeschabt. „Die könnten meine Maschine gut gebrauchen“, sagt der Mann, der die Spätzle im Wirtshaus bestellt hat in Kombination mit Linsen, Saiten und Schweinebauch – und einem kleinen Bier. Die Maschine heißt Spätzlewunder, System Bulling. Nach dem Nachnamen des Erfinders. Das System besteht aus unterschiedlich großen und unterschiedlich geformten Löchern und Schlitzen im Boden der Presse. Der Teig, der sich da hindurchdrückt, gleicht dem handgeschabter Spätzle. Seit 1985 ist das Wunder patentiert, viele zigtausend Mal wurde es seither gekauft. „Ich bekomme immer wieder Dankschreiben von Kunden“, sagt der Erfinder, der mit Vornamen Manfred heißt – und noch manch anderes erfunden hat.

 

Manfred Bulling schützte mit erstaunlichem Weitblick die Umwelt zu Lande, zu Wasser und in der Luft, rettete Baudenkmäler und Kleinode, und er gab vielen Schwaben in Nordwürttemberg ein neues Gefühl für ihre Heimat. Trotzdem wird sein Name noch immer mit einem Skandal in Verbindung gebracht, für den er gar nichts konnte: dem Birkel-Skandal. „Wie das gelaufen ist, das ärgert mich noch heute“, sagt Manfred Bulling über diese lange zurückliegende Geschichte.

Manfred Bulling ist von 1977 bis 1989 der Chef des Stuttgarter Regierungspräsidiums. Vor seinem Antritt wäre die Behörde wegen Unauffälligkeit fast abgeschafft worden. Doch Bulling macht aus der Mittelinstanz zwischen Ministerien und Kommunen ein politisch agierendes Haus – und sich selbst zu einem der bekanntesten Regierungspräsidenten der Republik. Der „P“ – wie er genannt wird – verordnet den Kohlekraftwerken in seinem Bezirk die Reinigung ihrer Abgase – zu einer Zeit, als diese Möglichkeit kaum bekannt ist. Die Tankanlagenbetreiber im Stuttgarter Hafen müssen auf sein Geheiß ihre Benzol- und Kohlenwasserstoffemissionen verringern. Und als die Luftverschmutzung gesundheitsbedrohlich zu werden droht, denkt der parteilose Bulling laut über ein Fahrverbot für Autos ohne Katalysator nach. Das Geschrei der Volksseele juckt ihn so wenig wie das von Daimler-Benz. Dem Autobauer wirft der P Traditionslosigkeit vor, weil er sich Mercedes-Benz nennen will. Harmoniebedürftigkeit ist keine Eigenschaft für eine P-Persönlichkeit wie Bulling, der sich selbstverständlich auch mit der Stadt anlegt. Bulling lässt kurzerhand den bereits beschlossenen Abriss des Marienhospitals stoppen. Und er sorgt dafür, dass die Brezelstände auf der Königstraße bleiben.

Der schwäbische Stammeshäuptling

„Schwäbischer Stammeshäuptling“ wird er geschimpft. Oder „Schreibtisch-Palmer“, der zu allem, was sich zwischen Tauberbischofsheim und Nürtingen bewege, seinen Senf beisteuern müsse. „Ich war nicht gerade zimperlich, das gebe ich gerne zu“, sagt Bulling heute. Er sei oft an die Grenzen gegangen – aber nicht darüber hinaus. Bulling weiß genau, welche Macht sein Amt hat. Der promovierte Jurist aus Feuerbach hat aufgepasst auf seinen Stationen im Böblinger und Ludwigsburger Landratsamt, im Bonner Innenministerium, dem Freiburger Regierungspräsidium, dem Stuttgarter Innenministerium und im Staatsministerium, wo er für Filbinger unter anderem die Gemeinde- und Kreisreform mit ausgeheckt hat.

So kann Bulling, wenn er mal wieder im Clinch liegt mit einem angeblich übergangenen Landrat, Bürgermeister oder Gemeinderat, süffisant Nachhilfestunden anbieten. Damit sich die Motzkis klar werden über seine Kompetenzen – und ihre eigenen. P wie Patron.

Ende 1989 ist Schluss. Dabei will Bulling wieder nur mal seiner Zeit voraus sein. Zur Luftreinhaltung soll der Verkehr auf der B 10 zwischen Stuttgart und Esslingen mit Tempo 60 statt 100 rollen. Das Innenministerium stimmt dem Versuch zunächst zu. Doch als der Esslinger CDU-Politiker Otto Hauser öffentlichkeitswirksam einen Verkehrskollaps befürchtet und eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Bulling einreicht, kommt es anders. Der Innenminister Dietmar Schlee erinnert sich plötzlich nicht mehr an seine Zustimmung. Er erinnert sich eher an den Ärger, den ihm dieser Bulling schon mit seinem Kleingartenerlass beschert hat. Tausende von Gartenhäuschen hat er abreißen lassen, weil sie schwarz in die Landschaft gebaut worden waren. So einen Ärger braucht Schlee kein zweites Mal. Also gibt er Hausers Beschwerde nach – und rügt den P öffentlich. Für Bulling ist klar: „Wenn mir jemand vorhält, ich sei meinem Amt nicht gewachsen, kann ich doch nicht bleiben.“ Dass sein Präsidium zur „Briefträgerbehörde“ verkommt, sollte er trotz der Schmach ausharren, ist für Bulling ausgemachte Sache. Also geht er. P wie Pardauz!

„Seine Demontage begann mit einer Niederlage im Nudelkrieg“, schreibt der „Spiegel“ über den scheidenden Chef damals. Diese Lesart setzt sich im öffentlichen Bewusstsein fest – sie ist falsch.

Bulling und der „Nudelkrieg“

Der Nudelkrieg beginnt im August 1985 mit einer Warnung vor 7-Hühnchen-Produkten der Firma Birkel. Einige der Eierteigwaren aus dem Remstal seien mikrobiell verdorben gewesen, verkündet das Regierungspräsidium. Allerdings nicht Bulling, der urlaubt zu dieser Zeit, sondern sein Stellvertreter Adolf Kiess, der sich in Bullings Tradition wähnt. Der P hat bereits vor Östrogenen in Babynahrung, Nematoden in Fischfilets und Glykol in Wein gewarnt – und dabei stets die Namen der Produzenten genannt. Doch bei den Nudeln gibt es Ärger, der das Land teuer zu stehen kommt. Klaus Birkel, der „Nudelkönig“, zieht vor Gericht. Verdorbenes Flüssigei gebe es in seinen Produkten nicht. Sechs Jahre später, 1991, kommt es zu einem Vergleich: Das Land muss Birkel umgerechnet 6,5 Millionen Euro zahlen. Bulling, längst nicht mehr im Amt, hätte einen solchen Ausgang für nicht denkbar gehalten. Er hat Birkels Bekundungen nie geglaubt. Doch das Gericht schenkte dessen Gutachten mehr Glauben als denen des Regierungspräsidiums. Ein Fehler, fast 20 Jahre später, im März 2008, enthüllt der „Stern“: „Es waren Ekel-Eier drin!“ Der vom Gericht beauftragte Sachverständige hatte zugleich einen Beratervertrag mit Birkel und formulierte seine Gutachten im Sinne des Unternehmers.

Manfred Bulling hat sämtliche Entlastungsartikel aus dieser Zeit gesammelt und ordentlich abgeheftet. „Wir wurden verschaukelt“, sagt er, „und vollständig rehabilitiert.“ Aber ärgern, wie gesagt, tue ihn die Sache trotzdem noch.

Manfred Bulling ist kein Verlierer. Er mag den verbalen Streit, den „Ringkampf um die besten Argumente“. Als er 1990 einer renommierten Anwaltskanzlei beitritt, schwant dem Stuttgarter Oberbürgermeister Schlimmes: „Hoffentlich tritt er nicht in einem Prozess gegen uns auf“, scherzt Manfred Rommel. Schließlich sei Bulling davon überzeugt, immer im Recht zu sein – und könne das auch begründen. Im Jahr 2000 verlässt Bulling die Kanzlei, er ist 70. Aber Ruhestand ist nichts für ihn. Er verteidigt weiter, wenn es sein muss, auch sich selbst. Vor drei Jahren hat er gegen die EnBW gewonnen, die ihm und seinen Hausnachbarn nicht nur die Heizkosten berechnete, sondern die gesamte Anlage. Zu Unrecht, wie sich zeigte.

Er stand kurz vor der Kandidatur zum OB von Stuttgart

„Mein Alltag ist noch ganz bunt“, sagt der Mann, der seit 48 Jahren verheiratet ist, fünf Kinder hat, 13 Enkel – und inzwischen 83 Jahre zählt. Nur ein unauffälliges Hörgerät deutet auf das hohe Alter hin. Ansonsten: dichtes Haar, aufmerksame Augen, feste Stimme, klare Meinung.

„Das Projekt ist Blödsinn. Es gibt kein Verhältnis zwischen den Kosten und dem Nutzen.“ Bulling über S 21. „Dass dieser alte Opa auf einmal der Retter sein soll – da hab ich doch lachen müssen.“ Bulling über Brüderle und die FDP. „Die handelnden Personen sind absolut unattraktiv.“ Bulling über Peter Hauk und Thomas Strobl, die die CDU im Land aufrichten wollen. „Wie kann man einen Frührentner ohne Ahnung zum OB-Kandidaten küren?“ Bulling über die Stuttgart-CDU und Sebastian Turner. Er selbst hätte es beinahe auch einmal zum OB-Kandidaten geschafft: Wäre anno 1978 nicht Lothar Späth Ministerpräsident geworden, sondern Manfred Rommel, hätte die CDU Bulling zum neuen Chef von Stuttgart machen wollen. Ihn, den Parteilosen.

Vor sechs Jahren ist Manfred Bulling nach Schwieberdingen gezogen. In eine barrierefreie Wohnung mit Aufzug bis in die Tiefgarage. In der Nähe des Mehrfamilienhauses fließt die Glems. Das Flüsschen war eine Kloake, bis der P in den 80er Jahren mit einem Gewässersanierungsprogramm auftauchte. Bulling und seine Frau gehen oft an der Glems spazieren. Und jedes Mal, wenn er einen Fisch darin entdeckt, freut er sich. „Das haben wir gut gemacht.“ P wie Bulling.