Nicht eine dunkle Macht von außen hat den Anschlag in Boston verübt, sondern Amerikaner. Bei der Bestrafung des mutmaßlichen Attentäters dürfen die USA nicht die Grundsätze des Rechtsstaates außer acht lassen, meint Damir Fras.

Boston - Im Jahr 2008 hat Marc Sageman eine für den damaligen Stand der Debatte kühne Vorhersage gemacht. Das „goldene Zeitalter“ von Al-Kaida sei längst vorbei, schrieb der ehemalige CIA-Agent in seinem Buch „Leaderless Jihad“. Die Vorstellung, ein Terrornetzwerk funktioniere wie ein hierarchisches System, sei von der Geschichte überholt. Die neue Generation der Terroristen sei – wie der Titel von Sagemans Buch schon sagt – führungslos. „Gefahr geht nicht mehr von ausländischen Fanatikern aus, sondern von Leuten, die im Westen aufgewachsen sind“, schrieb Sageman. Das seien Möchtegern-Terroristen, ohne organisatorische Bindung an eine übergeordnete Institution. Sageman musste sich viel Spott für diese These anhören. Er verdient eine Entschuldigung.

 

Der Bombenanschlag auf den Marathonlauf in Boston hat belegt, dass die These korrekt war. Tamerlan Zarnajew, der getötete mutmaßlich Attentäter, passt in Sagemans Schema. Er kam in seinen Jugendjahren nach Amerika und fügte sich scheinbar problemlos in die neue Gesellschaft ein, ohne allerdings von ihr überzeugt zu sein. Seine Zweifel wuchsen. Irgendwann einmal wurde er offenbar der amerikanischen Gesellschaft überdrüssig und fasste den Beschluss, ein Zeichen zu setzen und sich einen Namenseintrag im Geschichtsbuch zu sichern. Er wurde zum Killer. Dschochar Zarnajew, gegen den jetzt Anklage erhoben wurde, dürfte wohl eher ein Mitläufer gewesen sein, der vom älteren Bruder beeindruckt war.

Dumme Reaktionen der Republikaner

Noch ist unklar, wie stark der Entschluss, die Bomben an der Laufstrecke zu legen, von einer religiös-extremistischen Grundüberzeugung geprägt war. Unklar ist auch, ob die Zarnajew-Brüder Hilfe aus dem Ausland erhielten. Das Bostoner Attentat ist hausgemacht, nicht aber das Werk von Schläfern, die aus fernen Ländern eingereist sind. Boston ist made in USA – ein Attentat, verübt von Amerikanern, auch wenn Tamerlan Zarnajew keinen US-Pass hatte. Diese Erkenntnis macht die erste Reaktion einiger konservativer Politiker in Washington vielleicht nachvollziehbar, aber nicht weniger dumm. Nur Stunden nach dem Tod des einen mutmaßlichen Attentäters und nach der Verhaftung des anderen, riefen sie danach, das Recht außer Kraft zu setzen. Dschochar Zarnajew sollte der Prozess vor einem Militärgericht gemacht werden, hieß es. Er sollte zum „feindlichen Kämpfer“ erklärt werden, der – das sagten sie nicht, aber meinten es – nach Guantánamo gehört, für immer.

Das war Unfug, gefährlicher Unfug. Hätte Timothy McVeigh, der Attentäter von Oklahoma City, vor ein Militärgericht gehört? Hätte Ted Kaczynski, der 16 Briefbomben verschickte, vornehmlich an Vorstände von Fluggesellschaften und Uniprofessoren, nach Guantánamo geschickt werden sollen? Zweimal Nein. Beide waren Verbrecher, und beide wurden für ihre Verbrechen von einem ordentlichen Gericht verurteilt. So, wie es sich gehört in einem demokratischen Staat.

Das Weiße Haus reagiert sofort

Nur, weil es immer noch einen Ort wie Guantánamo gibt, an dem jegliches Recht verhöhnt wird, darf nicht jeder Verbrecher automatisch dorthin gebracht werden. Zarnajew hat Rechte, auch wenn er mutmaßlich ein Terrorist ist. Es ist dabei unerheblich, ob er sein Verbrechen aus rechtsextremen Motiven, aus religiösen Gründen oder aus reiner Dummheit begangen hat.

Immerhin hat das Weiße Haus unter Präsident Barack Obama keinen Augenblick gezögert, als die Rufe nach einem Militärtribunal laut wurden. Zarnajew, so erklärte die US-Regierung klar und bestimmt, werde einen ordentlichen Prozess bekommen. Es ist schon schlimm genug, dass das Lager Guantánamo immer noch nicht geschlossen ist. Neue Insassen braucht es nicht. Nur wenn die USA sicherstellen, dass Zarnajew ein ziviles Verfahren bekommt, erweisen sie sich als ein Rechtsstaat. Die Praxis, das Recht im Namen der nationalen Sicherheit zu beugen, wie es unter George W. Bush üblich war, ist mit dem früheren Präsidenten abgewählt worden. Das müssen auch die Republikaner lernen.