Unter viel Getöse gibt Brasiliens Fußball-Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari am Mittwoch seinen WM-Kader bekannt. Ein Staatsereignis ist nichts dagegen – der WM-Titel im Juli ist für seine Landsleute Pflicht.

Rio de Janeiro - Die Absolution von höchster Stelle hat Luiz Felipe Scolari schon erhalten, obwohl offen ist, ob seine Entscheidungen von Erfolg gekrönt sein werden. „Ich mag ihn, seine Würde und Aufrichtigkeit“, ließ die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff wissen, als Gaucho mit dieser italienisch-deutschen Mischung sei er „großartig und gut für Brasilien“. Und ach, wie gerne sie doch einmal ins Teamquartier der Seleção nach Teresópolis nahe Rio de Janeiro reisen würde, nur um die Arbeitsmethoden von Felipão, dem großen Felipe, kennenzulernen und ihn dabei zu beobachten, „wie er auf dem Trainingsplatz die Kommandos gibt“. Es ist Wahlkampf in Brasilien, und Scolari ist ein Sympathieträger, dem viele Brasilianer vertrauen.

 

Doch bevor die in weiten Teilen ziemlich unzufriedenen Bürger am 5. Oktober entscheiden, ob sie Dilma Rousseff noch eine zweite Chance als Mutter der Nation geben, steht für das WM-Gastgeberland ein mindestens ebenso wichtiges Votum bevor. Das jedenfalls suggeriert der Medienrummel, der am Mittwoch in Rio de Janeiro auf seinen vorläufigen Höhepunkt zusteuern wird.

Fast ein Staatsereignis

Im großen Showpalast Vivo Rio wird Scolari dann vor Hunderten von Journalisten und zahlreichen Gästen jene 23 Namen bekanntgeben, mit denen er bei der Heim-WM zum sechsten Titelgewinn der Seleção verpflichtet ist. 2002 gewann Brasilien die fünfte Welttrophäe, Scolari hatte es möglich gemacht. Es trägt Züge einer Rede zur Lage der Nation, die der ehemalige Abwehrspieler nun bei seiner Kaderbekanntgabe halten wird, einen Tag vor dem Bundestrainer Joachim Löw.

Daran ändert auch Scolaris Ankündigung wenig, auf Überraschungen zu verzichten. „Wir werden keine großen Neuigkeiten verkünden. Es ist möglich, dass ihr 22 der 23 Namen erraten werdet“, hatte der 65-Jährige ja zuletzt bereits erklärt. Dennoch werden die 200 Millionen Brasilianer trotz allem Frust über die sündteure WM und die gleichzeitigen Versäumnisse in Sachen Infrastruktur, Gesundheits- und Bildungswesen gebannt an seinen Lippen hängen. Der Fußball lenkt in Brasilien vielleicht noch mehr als anderswo vom beschwerlichen Alltag ab.

Berufen werden, das hatte Scolari bereits verraten, die Innenverteidiger Thiago Silva und David Luiz sowie der Torwart Julio Cesar und der Angreifer Fred als seine Kapitäne. Daneben kündigte der Trainer an, auch mit Oscar, Ramires, Willian und Paulinho zu planen. Der kickende Popstar Neymar wird trotz seiner jüngsten Blessur ebenfalls zu den 23 Hoffnungsträgern zählen. Und als gesetzt für den Kader gelten Jefferson, Daniel Alves, Marcelo, Maxwell, Hulk, Bernard, Jô sowie die beiden Bundesligaprofis Dante (Bayern) und Luiz Gustavo (Wolfsburg).

Der Hoffenheimer Firmino darf hoffen

Ebenfalls empfohlen für eine Nominierung hat sich Dantes Vereinskollege Rafinha Anfang März im Test in Südafrika. Die Spekulationen über die verbleibenden Plätze drehen sich um den dritten Torwart, den vierten Innenverteidiger, zwei weitere Mittelfeldspieler – ums ergänzende Personal also. Von Hoffenheims torgefährlichem Mittelfeldspieler Roberto Firmino (22) könnten die Propheten in der Heimat vielleicht überrascht werden. Ex-Größen wie Ronaldinho oder Kaká haben sie erst recht nicht auf dem Zettel. Auf seiner Europareise vor wenigen Wochen hatte sich Scolari mit Firmino ausgetauscht, danach aber vor allem von den Trainingsbedingungen im Kraichgau geschwärmt. Ein kleines Ablenkungsmanöver?

Die Dramaturgie zu Scolaris Kaderbekanntgabe ist jedenfalls bestens aufgebaut. Zunächst sein Auftritt in einer Fernsehsendung, in der er wie ein Staatsmann weit über den Fußball hinaus Stellung bezog zu Themen von Meinungsfreiheit über Homophobie bis hin zur Todesstrafe. Dann sein Abschied aus der Öffentlichkeit in den Kreis seiner Familie, vor der vermeintlich wichtigsten Entscheidung seines Lebens. Und nun also der Auftritt im Scheinwerferlicht, dazu in der Gastgeberstadt des WM-Finales, wo Brasilien am 13. Juli im Maracanã triumphieren will.

Auch Dilma Rousseff dürfte sich für Scolaris Rede zur Lage der Nation interessieren. Die in Umfragen abgestürzte Präsidentin drückt ja alle Daumen, dass es tatsächlich zum erhofften Freudentaumel im Land der Unzufriedenen kommt. Ein Misserfolg der Seleção, zumal bei der umstrittenen WM, könnte der Präsidentin trotz schwacher Konkurrenten noch komplizierte Monate bis zur Wahl aufbürden. Scolaris Entscheidungen sollten also sitzen.