Ein Bestseller wird Annette Schavans Doktorarbeit wohl nicht mehr. Wer die 351-Seiten lange Schrift liest, findet viel philosophischen Überbau – aber auch versteckte Hinweise auf das Gefühlslebend er 25-Jährigen.
Tübingen - Vergriffen, ausgeliehen, aus dem Bestand verschwunden. Die Dissertation von Dr. Annette Schavan zu finden, ist kein leichtes Unterfangen, aber in Tübingen hütet die Bibliothek des Erziehungswissenschaftlichen Instituts der Universität noch einen der raren Schätze: eine mit grün-weißem Titel gebundene Ausgabe von Schavans „Person und Gewissen – Studien zu Voraussetzungen, Notwendigkeiten und Erfordernissen heutiger Gewissensbildung“ – erschienen 1980 – „meinen Eltern in Dankbarkeit gewidmet“. Ausleihen ist verboten, kopieren erlaubt.
Um es vorweg zu sagen: das Lesevergnügen der 351 mit Schreibmaschine getippten Seiten hält sich in Grenzen, es ist die trockene Forschungsarbeit einer 25-jährigen Doktorandin der Erziehungswissenschaft, kein aufs allgemeine Publikum zielendes Sachbuch. Dennoch findet der unbefangene Leser Denkanstöße – und Hinweise auf den konservativen Hintergrund der amtierenden Bundesbildungsministerin.
Die Hinführung zum Thema ist gelungen. Wie kann Gewissen – eines der wesentlichen Merkmale des Menschen – geprägt werden? Wie kann der Mensch zu verantwortungsvollem Handeln gebracht werden? Schavan zitiert zunächst den hässlichen Gegenpol einer humanen Sichtweise: Adolf Hitler, der das Gewissen als „eine jüdische Erfindung“ bezeichnete, die „wie die Beschneidung eine Verstümmelung des menschlichen Wesens“ sei. Die Doktorandin setzt ihm die frühen Lobbyisten einer sittlichen Ordnung entgegen: Platon, Aristoteles und Protagoras, der geschrieben hatte, dass „die Tugend der Scham und der Gerechtigkeit zum Menschen“ gehöre und zu erlernen sei. Landläufig, so Schavan, bezeichne man Gewissen als individuelle Wertbindung. Das Lateinische „Conscientia“ ist vom Mönch Notker Labeo (gestorben 1022) in St. Gallen als „Gewizzen“ ins Deutsche übersetzt worden. Es ist ein „Mitwissen“, das Wissen um eigene Handlungen und die „eigene sittliche Stellungnahme“. Der Mensch ist dabei mit sich allein.
Unterschiede zwischen Mensch und Tier
Mit Herder und Adolf Portmann skizziert Schavan die Unterschiede des Menschen zum instinktgeleiteten Tier. Der Mensch ist der Schöpfer seiner Werte und seiner Welt, und von Portmann übernimmt sie den Satz, „dass dem Menschen eine weitgehende Freiheit der persönlichen Entscheidung selbst in der Sexualsphäre als dem am meisten instinktgebundenen Teile seines Verhaltens gegeben“ sei.
Alles ist möglich, alles geht. Später wird Schavan aus einem der 235 von ihr aufgeführten Bücher und Aufsätze einen Autoren die „lückenlose Permissivität“ der neuzeitlichen Menschen beschreiben lassen.
Aber woher beziehen wir unsere inneren Werte? Im Zentrum der Arbeit steht eine Gesamtschau dessen, was ein Dutzend Philosophen und Psychologen zum Gewissen zu sagen haben – das reicht von Alfred Adler, Niklas Luhmann, Sigmund Freud bis hin zu Immanuel Kant und ist oft formalistisch, inhaltsleer. Aber da warnt Erik Erikson auch vor „strengem Buchstabengehorsam“ und dem „Abschnüren der Triebe“ des Kindes durch Verbote und kritisiert schlechte Eltern, die Gewissenspflichten in ihren Kindern „wecken“, aber selbst nicht erfüllen. Da glaubt ein optimistischer Erich Fromm, die Normen einer sittlichen Lebensführung seien in der menschlichen Natur selbst begründet. Das ist alles lesenswert, aber häufig auf hohem Abstraktionsniveau, und auffällig ist der Stilbruch, wenn Schavan nach komplizierten Heidegger-Passagen in dürren Worten – übrigens selten – eigene Wertungen vornimmt. Am Ende fragt sie selbst, ob die klassischen Definitionen sie wirklich weiterbringen. Immer wieder eingestreut in die Analysen, redundant, ist die Erkenntnis, dass man Werte und Normen aus persönlicher Überzeugung bejahen müsse, ein Erzieher dürfe sie nie oktroyieren, er müsse sie „vermitteln“.
Ratlos ob des simplen Fazits
Der Leser atmet förmlich auf, wenn die Autorin einmal Sympathien aufblitzen lässt, etwa für den Psychologen Philipp Lersch, den sie gegen den Vorwurf „spekulativer Metaphysik“ verteidigt, da der behauptet, dass auch aus dem Gemüt – einer Emotion – eine Gewissensbildung erfolgen könne. Ja, schreibt die junge Autorin, die Erfahrung des Menschen spreche dafür, dass man „ungeplant vom Gewissenserlebnis ergriffen werden kann“. Deutlich wird auch eine Vorliebe der Katholikin für die christliche Ethik, allen voran die ihrer eigenen Konfession – Luther kommt in einer Fußnote vor, das CDU-Grundsatzprogramm von 1978 übrigens auch – und sie weiß schön den Katholiken Karl Rahner zu zitieren, der da sagt: „Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme im innersten zu hören ist.“
Am Ende bleibt der Leser ratlos angesichts des simplen Fazits. Da fordert Schavan Freiräume für Heranwachsende, damit sie ihr Gewissen finden, und ein „dialogisches Verhältnis“ der Erzieher (Eltern) zu ihnen anmahnt. Man müsse Mut machen zur Gewissensentscheidung. Der Erzieher solle dem Jugendlichen mit Verständnis begegnen, ihm „durch das klärende und wertermunternde Gespräch helfen“ – so war der Stil der 70er Jahre. Starke Sprache ist in der Arbeit immerhin in geringen Dosen enthalten, meist in Fußnoten versteckt, etwa in Alexander Puschkins „Boris Godunow“, wo das schlechte Gewissens geschildert wird: Der Vorwurf poche „im Ohr mit Hammerschlägen“, man möchte fliehen und wisse nicht wohin: „Entsetzlich! Unseligist, wen das Gewissen quält.“