Im Urlaub lieben es die Leute eher ursprünglich. Wer auf Reisen geht, wählt in der Regel keine Gegenden, in denen Schornsteine quarzen, Betriebe brummen und das Bruttosozialprodukt in die Höhe schnellt. Sondern Orte, an denen die wirtschaftlichen Segnungen der Moderne möglichst spurlos vorübergegangen sind: einsame Eilande im Ozean der Geschichte, die einer anderen Zeitrechnung unterliegen, in deren möglichst unberührten Buchten sich die Wunden kühlen lassen, die die Zivilisation geschlagen hat – bis der Flieger wieder zurückgeht.
Man könnte die kleine fiktive sizilianische Insel Katria, von der Germana Fabiano in ihrem Roman „Mattanza“ erzählt, für einen solchen Ort halten – und ihr Buch für die ideale Urlaubslektüre. Es entführt in eine archaische Welt, beherrscht von Legenden, jahrhundertealten Traditionen und dunklen Prophezeiungen. Die Menschen leben vom Thunfischfang im Einklang mit der Natur und religiösen Gebräuchen, in denen Heiliges und Heidnisches ineinanderspielt.
Feministische Ertüchtigung
An der Spitze der Gemeinschaft steht nicht das lokale Adelsgeschlecht, auch wenn es mit seiner Fischfabrik der wichtigste Arbeitgeber ist, sondern der sogenannte Raìs, eine Art spiritueller Garant der insulären Daseinsform. Seit vielen Generationen wird er unter den männlichen Nachkommen einer auserwählten Familie bestimmt. Was aber, wenn der Posten des weisen Mannes mangels Söhnen nicht mehr besetzt werden kann? Dann muss eben die Enkelin ran. Das junge Mädchen Nora wächst nun in diese Rolle hinein, und sie durchläuft damit gewissermaßen eine Emanzipation im Geist patriarchaler Gesetze.
Der daraus resultierende Konflikt zwischen feministischer Ertüchtigung und genealogischer Restauration, die plastischen Beschreibungen des blutigen rituellen Fischzugs der sogenannten Mattanza, die pittoresken Charaktere einer überschaubaren mediterranen Dorfwelt, geschickt verknüpft mit einem untergründigen kriminalistischen Handlungsfaden – all dies böte Stoff genug für einen lohnenden Abstecher in die Fanggründe folkloristischer Urwüchsigkeitsversprechen.
Die Fische gehen, die Urlauber kommen
Aber Germana Fabiano erzählt eben nicht rückwärts, sondern vorwärts. Und je weiter sie in der Zeit von den 1960er Jahren an voranschreitet, desto weiter entfernt sich „Mattanza“ von den Gestaden gefälliger Länder-Menschen-Abenteuer-Unterhaltung und wird zu einem aktuellen geradezu dokumentarischen Roman, der den blinden Fleck nicht allein des touristischen Blicks unbarmherzig sichtbar macht. Denn die überzeitliche maritime Schicksalsordnung mit ihren Bräuchen und Gesängen bei der Arbeit ist nur der flimmernde Hintergrund, über den erst Flotten mit hochgerüsteten Fangschiffen aus Asien schippern, die die Lebensgrundlage der Inselbewohner drastisch dezimieren. Die Fabrik droht verkauft zu werden, eine genossenschaftliche Lösung, für die Nora und die Fischer ihr Hab und Gut einsetzen, soll das Verhängnis abwenden. Dafür kommen die ersten Urlauber, mit riesigen Rucksäcken und absurden Kopfbedeckungen, die die Fischer fotografieren und am liebsten auf deren Booten mitfahren würden, um das blutige Mattanza-Spektakel aus der Nähe zu verfolgen.
Gleißende Gegenwärtigkeit
Irgendwann aber gehen keine Fische mehr ins Netz, sondern Leichen. Zuerst ein kleiner Junge, dann immer mehr, Schiffbrüchige aus Afrika. Boote mit Verzweifelten landen an, „Männer, Frauen und Kinder, in Lumpen, barfuß, mit vom Durst aufgeplatzten Lippen“. Und in ihrem Gefolge nach und nach Heerscharen von Polizisten, Journalisten, Politikern, ein Präsident des Europäischen Parlaments, ein UN-Sekretär und zwei Päpste. Die kleine Insel ist nicht mehr einfach ein von der Laune eines Gottes ins Meer gesetzter Felsen, sondern EU-Außengrenze. Und wo früher die Fischer ihre Netze trockneten, stehen nun die Zelte eines stacheldrahtumzäunten Erstaufnahmelagers.
Es ist die Geschichte Lampedusas, die in all ihrer bedrückenden Gegenwärtigkeit die archaische Welt des fiktiven Katria gleißend überblendet. Germana Fabiano lebt in Sizilien, wo sie geboren wurde, und in Tübingen, wo sie eine Dozentur für Menschenrechte innehat. Individuelle Anschauung und Universalismus finden in ihrem Roman auf eine Weise zusammen, die der medialen Schauseite des Themas Perspektiven hinzufügt, die nur die Literatur scharf stellen kann.
Die Thunfischschwärme bleiben aus, Tausende Tote liegen auf dem Meeresgrund, und wer will Urlaub machen, wo verzweifelnde Überlebende eingepfercht einer ungewissen Zukunft harren. Das Schicksal von Katria gleicht immer mehr dem der Geflüchteten, die hierherkamen, von einer unerwarteten Wendung aus der Bahn geworfen, der man so ratlos, wehrlos, kraftlos ausgesetzt war, denkt Nora einmal. Die Insel war zu einer Brücke zwischen zwei Welten geworden – „einer Brücke, die aber mitten im Nichts auseinandergebrochen war, weder Anfang noch Ende hatte und nirgendwohin führte“. Damit mündet die mythische Zyklizität der Zeit in die schlechte Unendlichkeit der europäischen Flüchtlingstragödie, die Tag für Tag neuen Schrecken und neues Unheil gebiert.
Und so wird, was im leuchtenden Lokalkolorit einer literarischen Weltflucht beginnt, zu einer exemplarischen Reise in die Wirklichkeit. Hinter sie führt kein Weg zurück, wohin man sich auch vor ihr flüchten mag. Lampedusa ist überall. Das spricht nicht gegen Urlaubslektüre – ganz im Gegenteil.
Germana Fabiano: Mattanza. Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Neeb und Katharina Schmidt. Mare-Verlag. 192 Seiten, 22 Euro.