Peter Buwalda entfacht in seinem Roman „Bonita Avenue“ einen bürgerlichen Weltenbrand.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Albträume lauern an den Rändern unserer vertrauten Welt. Wenn es ihnen gelingt einzudringen, wirbeln sie das friedliche Gefüge des Lebens durcheinander und setzen es so wieder zusammen, dass nichts mehr stimmt. Albträume sind das furchtbare Nachtgesicht des Gewöhnlichen. Normalerweise ist die Grenze zwischen Wachen und Träumen geschlossen. Es gibt allerdings Schleichwege. Die Literatur ist einer, die Psychose ein anderer. Manchmal aber reißt auch ein Ereignis der Wirklichkeit mit plötzlicher Wucht den Schutzwall ein, der den Alltag von unseren schlimmsten Befürchtungen trennt.

 

Der junge niederländische Autor Peter Buwalda verknüpft in seinem Roman „Bonita Avenue“ alle drei Optionen miteinander, um den brachialen Beweis zu führen, dass nicht Vernunft und Selbstbestimmung die Welt regieren, sondern Triebhaftigkeit und Wahn – und dass der Zufall ein leichtes Spiel hat, das Pulverfass heiterer Lebenslügen in die Luft zu jagen.

Eine saubere Form der Prostitution

Siem Sigerius hat sich aus eher bedrückenden Verhältnissen nach oben gekämpft, erst als Judoka, dann als Mathematiker und brillanter Kopf. Nun ist er Direktor der Universität im niederländischen Enschede und kurz davor, zum Kultusminister des Landes berufen zu werden. Leistung, Beharrlichkeit und Begabung bilden das Fundament seines Glaubens und seiner steilen Karriere. Doch aus erster Ehe hängt ihm ein Sohn an, der in allem sein Gegenbild ist, brutal, asozial und kriminell.

Die schöne Stieftochter Joni hat dagegen Sigerius’ Prinzipien verinnerlicht. Zielstrebig verfolgt sie ihren praktikumsgepflasterten Weg und transferiert Begehren wie Gier auf den lukrativen Nenner einer Internetpornoqueen: Zusammen mit ihrem fotografierenden Freund Aaron produziert sie exhibitionistisch-exaltierte Bilderserien und verdient damit märchenhafte Summen, die beiden ein Doppelleben in absurdem Luxus ermöglichen. Aaron ist Joni mit Haut und Haaren sowie seiner zerbrechlichen Psyche verfallen. Er verehrt seinen Schwiegervater in spe, misst sich mit ihm im Judo, und genießt gleichzeitig hinterrücks mit dessen Tochter die geheimen Wonnen ihres Sexprojekts, zu dem ihn nicht eigene Lust, sondern Jonis Geschäftssinn verführt – „eine saubere Form der Prostitution“, wie sie meint.

Mordlust und eine Kreissäge

Das ist die Konstellation. Viel Licht in der Welt der Sigerius’. Aber im Schatten lagern brisante Stoffe. In Enschede, in dessen Nähe die Familie ein Bauernhaus bewohnt, explodiert am 13. Mai 2000 eine Feuerwerksfabrik und legt einen ganzen Ortsteil in Schutt und Asche, in nächster Nähe von Aarons Wohnung. 23 Menschen sterben. Das ist die Wirklichkeit. In die fiktionale Welt des Romans schlägt sie ein wie eine Bombe. „Vielleicht ist es ein Gesetz, dass eine so gewaltige Explosion unvorhergesehene Mechanismen in Gang setzt, Druckwellen aussendet, die ihrerseits seltsame Entwicklungen verursachen, Missverständnisse hervorrufen, Entscheidungen herbeiführen“, heißt es einmal. „Eine physikalische Katastrophe wie die Explosion der Feuerwerksfabrik ist ein Kreißsaal, in dem neue Katastrophen geboren werden.“

Weniger das manifeste Zerstörungswerk als seine indirekten Folgen markieren den Wendepunkt dieses Romans. Unscheinbare Risse durchädern mit einem Mal die gefällige Fassade dieser Familie. Misstrauen, Hass und Schuld schwelen herein. Joni gewinnt unwissentlich ihren Vater zum Kunden, den die bohrende Ungewissheit, seine sexuellen Fantasien an der eigenen Tochter auszuleben, in wüste Verzweiflung stürzt. Tragische Wucht und groteske Lächerlichkeit mischen sich im Moment der beiderseitigen Erkenntnis ihres virtuellen Inzests: „Sie sind im Albtraum des jeweils anderen“. Joni flieht in die USA, Aaron dreht durch, und der verleugnete und von Siem einst verleumdete leibliche Sohn versucht aus alldem Kapital zu schlagen. Er erpresst den am Zenit seines beruflichen Aufstiegs angelangten verhassten Erzeuger. Am Ende triumphiert kampfkunstgestählte Mordlust – und eine Kreissäge. Entsetzlich.

Ungeheuerliche Szenen

Man hat in den Niederlanden diesen ungebärdigen Wurf mit Jonathan Franzens „Korrekturen“ verglichen. Doch wo dieser mit poetologisch-raffinierter Delikatesse und postmoderner Alchemie den Auflösungsprozess einer Familie entwickelt, jagt Buwalda sie mit roher Gewalt in die Luft. Es sind ungeheuerliche Szenen, die er dem Leser und seinen Figuren zumutet, Szenen von überwältigender Peinlichkeit und splatterhafter Gewalt. Wie ein dämonischer Pyrotechniker präpariert Buwalda das Terrain. Die glückliche Vorgeschichte in den USA, die dem Buch den Titel gab, ist nur der Zündstoff für einen bürgerlichen Weltenbrand. Buwalda liebt es groß. Sigerius’ Gesicht „ähnelt von einem Moment auf den anderen einem leer stehenden Lagerhaus“. Alles drängt zur letzten Konsequenz. Holzschnitthaft sind seine Figuren. Sperrige Metaphern wuchtet Buwalda wie grobe Scheiter aufeinander, in die er die Fackel seines Ingrimms stößt.

Doch dieses Feuerwerk verglüht nicht in den eigenen großspurigen Effekten. In seinem unheimlichen Licht zeigt sich ein beunruhigendes Bild der Welt: kalt, profitlich und jederzeit bedroht von dem digitalen Nachtmahr, der unsere dunkelsten Wünsche kennt. Ein Albtraum, gelänge es nur, aus ihm zu erwachen.

Peter Buwalda: Bonita Avenue. Roman. Rowohlt, Reinbek. 640 Seiten, 24,95 Euro.