Buchtipp: Valerie Fritsch, „Zitronen“ Mutterliebe als bittere Pille

Die Grazer Schriftstellerin Valerie Fritsch, Jahrgang 1989, wird von der Kritik besonders für ihre kunstvolle Sprache gelobt. Foto: ORF/Jasmin Schuller

Die Österreicherin Valerie Fritsch erzählt in ihrem vierten Roman „Zitronen“ kunstvoll von einer traurigen Kindheit, übergriffigen Eltern und der grausamen Banalität der Gewalt.

Familie, Zusammenleben und Bildung: Eva-Maria Manz (ema)

Diese Mutter ist unglücklich. Sie sehnt sich nach einem Leben, das „groß ist“, und sitzt mit der Kleinfamilie am Rande eines Dorfes, so klein, „dass man sich, wenn man sich umschaute, nie sicher war, ob jeder jeden kannte oder niemand niemanden, nicht einmal den unter seinem eigenen Dach“. So weit, so bekannt, zumal in Zeiten, in denen die familiäre Ödnis längst nicht mehr den Dorfbewohnern überlassen bleibt, sondern zur Spezialität der selbstreflexiven Städter zwischen Mental Load und veganer Fleischwurst geworden ist. Doch das Schicksal von August Drach ist ein besonders herbes. Er ist der tragische Sohn dieser unglücklichen Mutter und Protagonist in „Zitronen“, dem neuen Roman von Valerie Fritsch. Obwohl man „versteckt im Faltenwurf einer unauffälligen Biografie“ lebt, wie es über die Mutter einmal heißt, entfaltet sich unter der Fassade des Sichtbaren in dieser Kleinfamilie eine beinahe tierische Gewalt.

 

In diesem kleinen Leben wächst das Rettende nirgendwo

Auch in ihrem vierten Roman kommt die österreichische Schriftstellerin Fritsch völlig ohne wörtliche Rede aus, verlässt sich auf ihre kunstvoll konstruierte Sprache, in der sich August Drachs von vorneweg zum Scheitern verurteiltes Leben so elegant im Präteritum ausrollt wie ein fein gewebter, prachtvoller Teppich. Trägt nicht die hässlichste Fratze der Gewalt bisweilen die schönste aller Masken? Es gibt einen üppigen Apfelgarten bei den Drachs und einen wunderbaren Italienurlaub mit den titelgebenden Zitronen als Hoffnungssymbol. Doch in diesem kleinen Leben, so heißt es einmal in Anlehnung an Hölderlin, wächst das Rettende nirgendwo.

Der Vater zeigt abwechselnd eine „verletzende Nähe“ und „eine ebensolche Distanz“, er schlägt den Jungen, sodass dieser „auch an warmen Tagen einen Pullover mit langen Ärmeln“ trägt, „damit er nicht mehr, als er musste, von sich preisgab, weniger Angriffsfläche für die Worte oder die Schläge bot“. Schon bald zeigt sich, die Mutter braucht die Gewalt gegen August, um in die Rolle der Retterin und Kümmernden zu schlüpfen wie in ein überraschend gut sitzendes Gewand. Und daher beginnt sie, August heimlich mit Arznei zu vergiften, nachdem der prügelnde Vater eines Tages einfach verschwindet. Die Mutter blüht auf, als August krank wird, sie wärmt „sich an seinem Fieber“. Fritsch, die auch als Fotografin arbeitet, erzählt diese Akte der Gewalt präzise und bildgewaltig. Abends am Bett fragt die Mutter den Sohn: „Bin ich eine gute Mutter?“ Tja, klar. Was soll man da antworten, wenn man nur diese eine hat und keine andere kennt?

Gelingt es diesen Geschichten, uns anzufassen?

So lernt das Kind die Liebe als Falle kennen, als Ort der Übergriffigkeit. Es lernt, dass jede Nähe ihren Preis hat. Kaum verwunderlich, dass es sich als Erwachsener später die Liebe zu einer Frau kaum anders vorstellen kann als eine Form der Einverleibung bis zur Auflösung wie bei Jona und dem Wal.

Die schöne kalte Sprache von Fritsch produziert eine Distanz zur Sache, von der sie erzählt, die man ambivalent finden kann. Gelingt es diesen Geschichten, uns anzufassen? Würde man verneinen, spräche man hier über eine äußerst psychopathische Faszination für das Schreckliche. Jedes Leid nur ein neues Abenteuer für jene, die sich selbst noch nie im harten Griff eines großen Unglücks befunden haben? Doch man ist im Grunde dankbar für diese bemühte Sprache in einer Zeit, in der im öffentlichen Diskurs immer einfacher und einfallsloser gesprochen wird – KI lässt grüßen. Was das „Münchhausen-Stellvertretersyndrom“ ist, kann man dann ja googeln.

Foto: Suhrkamp/Fritsch

Valerie Fritsch: Zitronen. Suhrkamp, 186 Seiten, 24 Euro.

Info

Autorin
Valerie Fritsch, Jahrgang 1989, lebt in Graz und Wien und arbeitet seit 2012 als freie Schriftstellerin und als Fotografin. Sie ist mit dem österreichischen Journalisten Michael Fleischhacker verheiratet.

Werk
Fritsch hat bereits vier Romane veröffentlicht und ist beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 mit dem Kelag-Preis und dem Publikumspreis ausgezeichnet worden. 2020 erhielt sie den Brüder-Grimm-Preis für Literatur.

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