Der 81-jährige Lyriker Jürgen Becker erhält in diesem Jahr den Georg-Büchner-Preis. Endlich findet dieser Autor die Anerkennung, die er verdient.
Stuttgart - In dem langen und enorm produktiven Leben des neuen Büchnerpreisträgers hat es einmal einen Moment der Krise gegeben, da der Schriftsteller dem Medium, in dem er sich bewegte, eine Pause verordnete und sich befreite von seinem chronischen Formulierungszwang. 1971 veröffentlichte Jürgen Becker sein fotografisches Tagebuch „Eine Zeit ohne Wörter“, eine Sammlung unspektakulärer Fotografien, wie zufällig wirkende Schnappschüsse aus der deutschen Gegenwart, nur ganz karg kommentiert. Der Wechsel von der experimentellen Prosa seiner ersten drei Bücher „Felder“ (1964), „Ränder“ (1968) und „Umgebungen“ (1970) zum Medium Fotografie kam damals nicht überraschend. Denn Beckers Gedichte wie auch seine Prosa leben seit je von der Wirkung visueller Reize und Impulse auf die Sprache, entwerfen ein Kraftfeld optischer und akustischer Wahrnehmungen. Becker selbst hat seine Arbeit gerne mit der Technik der Landschaftsmalerei verglichen: „Sehr oft ist das, was ich schreibe, eine Erfahrung meiner Augen und das Ergebnis meiner Abhängigkeit von optischen Reizen und Motiven.“ Im Fotoband „Eine Zeit ohne Wörter“, der schon lange vergriffen ist, protokollierte Becker denn auch weniger die Objekte selbst, als vielmehr Momente der stehen gebliebenen und weitergegangenen Zeit, der Bewegung und des starren Augenblicks.
Aber Jürgen Becker ist als Schriftsteller nicht nur ein Augenmensch, sondern auch ein hochsensibler Ohrenzeuge. Zu den Urszenen seiner Biografie gehört die frühe Begegnung mit dem Rundfunk. Der 1932 in Köln geborene Becker verfolgte als kleiner Junge intensiv das Kriegsgeschehen am Radio, und auch später blieb die Überlagerung der Stimmen und Tonlagen im Radio die akustische Primärquelle seiner Literatur. Das Hörspiel wurde für ihn, der selbst zwanzig Jahre lang, von 1974 bis 1993 die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks geleitet hat, ein bevorzugtes Genre. 1982 hat Becker in dem Hörspiel „Im August ein See“ sogar das Trauma seiner Biografie preisgegeben. Mitten im Krieg, 1943, als er elf Jahre alt war, hatten sich seine Eltern scheiden lassen, sie lebten zu diesem Zeitpunkt bereits in Erfurt. Das Scheidungskind Becker wollte bei seiner Mutter bleiben, doch das Gericht entschied, dass er zum Vater kam. Drei Jahre später nahm sich Beckers Mutter das Leben, sie ertränkte sich in einem See. Das Hörspiel, das auf diese Lebenswunde eingeht, markiert zugleich einen Wechsel in Beckers Schreiben.
Sein Werk umkreist Schlüsselszenen der Geschichte
War er bis in die 1990er Jahre hinein vor allem als Lyriker in Erscheinung getreten, so setzte er nun seine stillen Geschichtserkundungen als Erzähler fort. Bereits seine Gedichte, die er selbst mit einem „Tagebuch“ verglichen hat, fügen sich zu einem großen poetischen Journal des Jahrhunderts. In seinem Langgedicht „Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ hatte er bereits 1988 die Umwälzung der deutschen Geschichte vorweggenommen, der Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ fügte dann 1999 eine eindringliche Betrachtung über das geteilte und wiedervereinigte Deutschland hinzu. Als „Baumeister einer Architektur der Erinnerung“ (Sibylle Cramer) hat Becker immer wieder bestimmte Schlüsselszenen deutscher Geschichte in seinem Werk umkreist. In seinen Gedichten sind es die drohenden Geräusche des großen Kriegs, die in Form heranfliegender Bomber an sein Ohr dringen. Die Gedichte der Bände „Foxtrott im Erfurter Stadion“ (1994) und „Dorfrand mit Tankstelle“ (2007) ziehen eine „Gedächtnisspur zwischen Bunker und Funkkantine“, wie es etwa im langen Gedicht „Kirschzweig mit Nachrichten“ heißt. Zum Thema in diesem meisterhaften Gedicht werden der Bunker, in dem der Junge sich vor Luftangriffen verkroch, die „Schlagbäume über dem Dorfweg“ und die darauf folgende „Lügengeschichte des Friedens“. All diese Wahrnehmungspartikel werden in den Gedichten zu einer offenen Textur verwoben, eingesponnen in ein „Netz der Gleichzeitigkeit“.
Es gibt bei Jürgen Becker keine isolierten, in sich ruhenden, gleichsam unschuldigen Bilder, denn an ihnen allen haften die Spuren der Geschichte. In den Blick auf die Landschaft ist immer die Ahnung von Kriegsschrecken eingewoben: „Der Himmel heute ist klar. Ein Wetter für / Bomberpiloten. Gleich brechen sie auf, oder erst morgen, / die Blüten des Rhododendron.// Die Wiesen sind trocken. Am Wiesenrand / stehen Männer und schauen hoch in die Luft, in der / sich der Bussard kreisend entfernt. // Dann macht sie das Fenster zu, die älter/ werdende Frau, der unten im Hof der Geländewagen / gehört, mit Seekarten auf dem Beifahrersitz.“
Die Zeit ohne Wörter ist vorbei
Und immer wieder begegnen dem Leser dabei die Leitmotive des Autors: die „Kölner Bucht“ oder „Odenthals Küste“. Sie verweisen auf den Schreibort des Autors: ein Fachwerkhaus in Odenthal im Bergischen Land, in dem Jürgen Becker zusammen mit seiner Frau, der Fotografin Rango Bohne, seit vielen Jahren lebt.
Der Georg-Büchner-Preis für diesen großen poetischen Erinnerungskünstler und stillen Chronisten deutscher Geschichte ist seit etwa einem Vierteljahrhundert überfällig. Sehr lange, viel zu lange hat sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Zeit gelassen, um diesem Grenzgänger zwischen Lyrik und Prosa endlich auch die öffentliche Anerkennung zu gewähren, die er verdient. Die „Zeit ohne Wörter“ ist für Jürgen Becker nun auch in dieser Hinsicht vorbei.