Kilian Kleinschmidt hat aus einem Ort der Verzweiflung ein funktionierendes Lager für 120 000 syrische Flüchtlinge gemacht. Jetzt will er es zur Stadt umbauen – es wäre die viertgrößte in Jordanien.

Amman - An diesem Ort ist der Himmel aus Milchglas. Der Staub setzt sich in immer neuen Schichten auf alles, was in dieser Wüste leben und sterben muss. Bis Mitte des vergangenen Jahres gab es an diesem Fleck Jordaniens bis auf ein paar Kriechtiere nichts, was der feine Sand hätte einfangen können.

 

Heute leben mehr als 120 000 Menschen in Za’atari, geflohen vor dem Krieg in Syrien, auf diesem 531 Hektar großen Stück Wüste. Es ist mittlerweile so etwas wie die viertgrößte Stadt Jordaniens, das zweitgrößte Flüchtlingslager der Welt. Ihr selbst ernannter Bürgermeister heißt Kilian Kleinschmidt. Der Feldkoordinator des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, UNHCR, telefoniert. Wie eigentlich immer, wenn der 51-Jährige keinen Termin hat. Sein Handy steckt er nur noch selten in die Brusttasche seiner beigefarbenen Weste. Es klingelt ja doch immerzu.

Der Deutsche empfängt seine Besucher im Basislager der UN, das durch Stacheldraht, Zäune und Wachmänner gesichert ist. Politiker, Helfer, Journalisten, es ist viel los. Gerade sind Vertreter der Uefa im Camp. Sie wollen Fußballplätze für die Kinder bauen. Der Besuch des tschechischen Außenministers muss vorbereitet werden. Später hat Kleinschmidt ein Treffen mit Mitarbeitern der Stadt Amsterdam. Sie bieten ihre Unterstützung an, Za’atari mit einer angemessenen Stadtinfrastruktur auszustatten. Das Lager erfüllt mit seinen Schulen und Kliniken zwar die notdürftigen humanitären Standards. Aber wie würde ein Städtemanager die Müllabfuhr organisieren? Wie würde er das Wassersystem managen? Was ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln? Kilian Kleinschmidt ist der Puzzler, der die Teilchen zusammensteckt.

Was dem Markt fehlt ist die geschäftige Begleitmusik

Entlang der Hauptstraße des Camps haben sich Hunderte Läden angesiedelt, sogar Schönheitssalons und Friseure verstecken sich in schmucklosen Containern. Die Syrer bauen ihr früheres Leben so gut wie möglich in Za’ataris Wüste nach. Matratzen, Decken, Früchte, Kleider, Brote, Süßigkeiten, Eier: es ist ein Souq, und doch ist es anders als auf arabischen Märkten üblich. Keine Musik dröhnt blechern aus alten Lautsprechern. Keiner der Händler versucht seinen Nachbarn zu übertönen. Es ist zu ruhig.

An einem Schuhstand, über den eine Plane gegen die Sonne gespannt ist, sucht eine Syrerin aus einem Haufen ausgebleichter, abgetretener Kinderschuhe ein Paar für ihre Tochter aus. Die Frau aus Dara’a trägt einen grünen Schleier und tiefe Kerben in ihrem gebräunten Gesicht. Sie ist 35 Jahre alt und könnte auch 45 sein. Ihre dunkelbraunen Augen sind matt, ständig blickt sie hektisch um sich. Nun lächelt sie schüchtern, will ihren Namen nicht sagen aus Angst vor Assad. Ihr Vater und ihre Schwester sind noch immer in Syrien. „Wir waren doch glücklich“, sagt sie ganz leise, als würde sie sich dafür schämen. Seit acht Monaten lebt sie mit ihrem Ehemann und ihren sechs Kindern in Jordanien. Sie kann nicht zurück, Assads Schergen haben ihre Heimat mit Bulldozern plattgemacht. Sie hasst den Präsidenten.

Ihr 16-jähriger Sohn begleitet immer wieder Aufständische aus dem Lager illegal über die Grenze und kämpft in der Dunkelheit für die Freie Syrische Armee. Die Mutter hat Angst. Und kann erst einschlafen, sobald er am Morgen wieder zurück ist. „Er kann kämpfen, wenn er älter ist. Aber mit 16?“ Ein paar Meter weiter drehen sich aufgespießte Hühnchen in der Hitze.

Auch wenn die Flüchtlinge dem Krieg entkamen, er ist noch immer nah. Das liegt nicht nur daran, dass es nachts oft rumst von den Explosionen und die Container der Flüchtlinge wackeln, weil das nahe Syrien unter Artilleriebeschuss steht. Nein, den Krieg haben die Flüchtlinge nach Jordanien mitgebracht. In jedem Container, in jedem Zelt gibt es furchtbare Geschichten, die nicht mehr alle erzählt werden können, weil es zu viele geworden sind.

Entwicklungshelfer wurden mit Steinen beworfen

Es kommen noch immer jede Nacht rund hundert Menschen über die zwölf Kilometer entfernte Grenze – aber nicht mehr wie früher 3000. Das liegt zum einen an der strengeren Grenzpolitik der Jordanier, die unter der Masse der Flüchtlinge stöhnen. Zum anderen am Lager. „Ich würde eher wieder nach Syrien gehen als zurück nach Za’atari“, sagt ein Flüchtling, der in der Hauptstadt Amman bei Verwandten Zuflucht gefunden hat. Diese Meinung teilen viele der etwa 500 000 Syrer, die privat in Jordanien untergekommen sind. Za’atari – schlimmer als Krieg?

Die Versorgung der Menschen ist gesichert. Bis zu 35 Liter Wasser, die mit Lastwagen ins Camp transportiert werden, erhält jeder Syrer pro Tag. Dazu verteilt das World Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen an die Familien Brot, alle zwei Wochen gibt es unter anderem Bulgur, Linsen und Zucker. Za’atari kostet bis zu einer Million Dollar täglich.

Doch es waren weniger die Nahrungsmittel, die noch im Sommer katastrophale Verhältnisse im Lager verursachten. Entwicklungshelfer wurden von wütenden Syrern mit Steinen beworfen und so schwer angegriffen, dass sie im Krankenhaus landeten. Die Flüchtlinge sind sauer – sowohl auf die Gründe, die zum Bürgerkrieg im Heimatland geführt haben als auch auf die Welt. Sie wollen von der internationalen Gemeinschaft eine Reaktion auf ihr Schicksal und fordern politische und militärische Aktionen. Für deren Ausbleiben machen sie die UN mit verantwortlich.

Dutzende Männer sind bis vor Kurzem täglich in die Büros der Hilfsmitarbeiter gestürmt und haben wütend Forderungen gestellt. Syrische Mädchen wurden als billige Bräute auf dem Schwarzmarkt verkauft. Organisierte Verbrecher, die vor dem Krieg in der Grenzregion ihre zwielichtigen Geschäfte machten, hatten das Sagen im Camp übernommen. Gangs beherrschten die Kunststadt. Die Strommafia hatte illegal Leitungen angezapft und Anschlüsse an die Flüchtlinge verkauft. 30 Euro inklusive Sicherungskasten. Wenn die UN Gemeinschaftsküchen bauten, waren sie am nächsten Tag bis zum letzten Stein abmontiert. Duschen, die für alle gedacht waren, verschwanden über Nacht, um dann teilweise als Privatbad wieder aufzutauchen.


Campmanager Kilian Kleinschmidt kam im März, als das Lager kurz vor dem Kollaps stand. Der deutsche „Troubleshooter“ hat zuletzt in Mogadischu in einem Flüchtlingslager gearbeitet, davor in Islamabad. Der Dachdecker wurde nach Jordanien gerufen, um Ordnung zu schaffen.

Er hat schnell nach seiner Ankunft verstanden, dass alle Helfer so damit beschäftigt waren, humanitäre Standards zu erreichen, dass sie vergessen haben, Beziehungen aufzubauen. Wer sind die Menschen eigentlich? Woher kommt der Zorn? Kleinschmidt fing an, selbst wie ein Flüchtling zu leben. Er übernachtete oft im Lager und hörte sich die Sorgen der Menschen an. Nachts stiefelte er, bewaffnet mit Steinen in der Hosentasche, durch das Lager, um Präsenz zu zeigen und jenen Schmugglern und Banditen, die zuvor das Chaos beherrschten, als starker Mann zu begegnen. Und gegebenenfalls Steine zurückzuwerfen. Die Männer waren beeindruckt.

Kilian Kleinschmidt muss manchmal lächeln, wenn er sich an die Anfangserfolge erinnert. Als er merkte: jetzt läuft es.

Vor sechs Monaten noch haben 200 wütende Männer die Empfangsstation für die Neuankömmlinge überrannt, weil vier junge Brüder zuvor in einem Zelt verbrannt waren. Sie waren eins, zwei, drei und vier Jahre alt. Warum müssen Kinder so sterben? Die Syrer gaben den Helfern die Schuld, obwohl eine Kerze umgefallen war. Kleinschmidt eilte zur Station. Gebrülle. Gegröle. „Jetzt alle raus“, schrie der Deutsche. 190 Männer spurten.

„Das war das erste Mal, dass ich gemerkt habe, jetzt habe ich es geschafft.“ Der 50-Jährige hat mit den frustrierten Flüchtlingen geredet, ihnen seine Pläne und Visionen geschildert. Ein junger Mann antwortete ihm: „Im Augenblick schmeißen wir Steine auf dich, aber wenn alles so funktioniert, wie du es vorhast, werden wir dich mit Blumen bewerfen.“ Kleinschmidt sagte, zuerst müssten sie gepflanzt werden.

Er will nicht der Feind sein

Er weiß, dass die meisten Syrer im Camp Autoritäten und Eliten hassen. Doch er will nicht der Feind sein, und er hat es geschafft, dass sie ihm das glauben. Seine Erkenntnis: „Es geht hier um Ehre.“ Nicht Hilfsorganisationen, sondern die Flüchtlinge selbst sollen entscheiden, ob für ihre Kinder Windeln der Marke Pampers oder Windeln der Marke Huggies besser geeignet sind. Kleinschmidt will den Menschen ihre Würde zurückgeben. Dafür braucht er nachhaltige Strukturen. „Überall in der Welt managen wir Lager als Lager. Aber Lager erlauben es dem Insassen nicht, selbst Verantwortung zu übernehmen.“ Es sei nichts falsch daran, Flüchtlinge für Strom, Wasser, selbst Miete zahlen zu lassen, „auch wenn wir ihnen das durch ein Sozialhilfesystem ermöglichen“. Bis Ende des Jahres sollen die Syrer nur noch Geld bekommen anstatt Lebens- und Hygieneartikel, die sie heute oft wieder unter Wert verkaufen, um sich das anzuschaffen, was sie wirklich haben wollen.

Die Stimmung hat sich verändert. Auch wenn die Situation komplex bleibe, jetzt könne man arbeiten. „Davor haben wir uns nur verteidigt. Nun sind wir dabei, Initiative zu übernehmen“, sagt Kleinschmidt, dessen Deutsch etwas verfärbt ist durch die jahrzehntelange Arbeit auf Englisch. Er war zweimal verheiratet, hat sechs Kinder. Seine Frau und eins seiner Kinder sind in Amman. Vollstress. Was sonst?

Noch etwa 6000 Familien brauchen im Lager einen Container. Vor zwei Wochen konnte Fathma nach vier Monaten endlich das Zelt mit den blauen Buchstaben „UNHCR“ verlassen. Die Syrerin ist 32 Jahre alt und kann kaum aufhören zu lächeln, so glücklich ist sie über ihr neues Heim. Sie klopft gegen die weiße Wand. Der dumpfe Ton bringt sie nur noch mehr zum Strahlen. Fathma floh mit ihrem Mann und ihren vier Kindern aus Ghouta, einem Ort nahe Damaskus. Ihnen gelang die Flucht, bevor das Dorf weltweit berühmt wurde, weil Assad hier den chemischen Kampfstoff Sarin eingesetzt haben soll. Zwei Cousins ihres Mannes blieben damals. Sie sind nun tot.

Die Zeit im Lager ist keine Sechs-Monats-Affäre

Aber in Za’atari zählen andere Dinge. Der Winter etwa, in dem die Nächte furchtbar kalt werden. „Endlich haben wir einen Container“, sagt Fathma zum fünften Mal. Während sie das erzählt, putzt sie ihrem Baby mit einem alten, grauen Socken die Nase. Vier dünne Matratzen liegen herum, sechs Menschen schlafen hier. Aus beigefarbenem Stoff, mit roten Blümchen verziert, hat sie einen Vorhang gebastelt und ihn vor die Fenster gehängt. Sie weiß, dass der Tag ihrer Rückkehr in ein friedliches Syrien ein unbestimmter Tag in ferner Zukunft ist.

Kilian Kleinschmidt nennt so etwas Schlüsselmomente. „Als alle begriffen haben, dass die Zeit hier im Lager keine Sechs-Monats-Affäre ist, sondern ein paar Jahre dauern wird, haben die Menschen angefangen, persönlich zu investieren.“ Nur ist Za’atari nicht auf Privattoiletten und zigtausende Stromanschlüsse ausgerichtet. Die Entwicklungshelfer kommen kaum hinterher bei all der Eigeninitiative. „Jeder buddelt nun seine eigene Grube. Wir müssen Lösungen finden, um Abwassersysteme aufzubauen.“ Kleinigkeiten machen das Neue sichtbar. Wenn Kilian Kleinschmidt heute durch die staubigen Straßen spaziert, sieht er vor den Containern immer mehr Blumenbeete.