Die Wende im syrischen Bürgerkrieg rückt näher. In der Kleinstadt Azaz im Norden des Landes haben die Rebellen wochenlang die letzten Regierungssoldaten belagert, die sich in der Moschee verschanzt hatten. Und schließlich haben sie gesiegt.

Azaz - Nur das Summen eines Kampfhubschraubers, der über der Stadt kreist, ist zu hören. Ansonsten ist es still. Zwölf Aktivisten beobachten aus vergitterten Fenstern den Himmel, bereit, in Deckung zu gehen. Die Schule wurde, wie viele der umliegenden Gebäude, mit Granaten und Raketen beschossen. Unterrichtet wird hier schon lange nicht mehr. Die letzten Lehrer sind vor zwei Wochen geflohen, genauso wie die Schüler und deren Eltern. Wie fast die gesamten 70 000 Einwohner von Azaz. Nur ein kleiner Rest ist geblieben. Jene, die zu arm sind zur Flucht und ein paar Aktivisten.

 

Azaz ist eine Geisterstadt, seitdem sich die Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) und die regulären Truppen des syrischen Machthabers Bashar al Assad eine Schlacht liefern. Niemand hier weiß, wo die nächsten Granaten einschlagen, wann die Hubschrauber über der Kleinstadt in Norden Syriens wieder auftauchen, um Stellungen der Rebellen mit Raketen zu beschießen, wann Panzer in die Stadt rollen, um die Aufständischen zu vertreiben. Die Frage, die sich die letzten Bewohner von Azaz stellen, ist nicht ob, sondern wann der Beschuss von Neuem beginnt.

Das Schulgebäude ist ein flacher, gelb gestrichener Bau, den zwölf Rebellen als Mediencenter benutzen. Eine riesige Antenne ragt vom Dach in den Himmel, mit der sie über Satellit das Internet anzapfen, um Bilder und Videos von Kämpfen und Toten bei Facebook und Youtube einzuspeisen. Ein verzweifelter Versuch, die Welt am syrischen Bürgerkrieg teilhaben zu lassen. Für die Piloten der Kampfhubschrauber, die über Azaz kreisen, ist die Antenne ein leicht erkennbares Ziel. Aber die Schule hat einen Vorteil: Sie liegt im Toten Winkel eines Hügels und entzieht sich dem Schussfeld der Scharfschützen, die sich in den Doppelminaretten einer Moschee eingenistet haben und auf alles schießen, das sich in der Stadt bewegt.

Studenten werden zu Rebellen

„Dieser Ort ist so gut wie jeder andere, um unsere Arbeit zu verrichten“, sagt Ahmed Sayed Ali, ein 31-jähriger, schmaler Mann mit Halbglatze. In seinem Schulterholster steckt ein Revolver. An der Wand hängt die Flagge der Revolution: ein grüner, ein schwarzer und ein weißer Streifen mit drei roten Sternen in der Mitte. Daneben eine Kalaschnikow. Auf Matratzen dösen erschöpfte Rebellen. Sie alle sind Studenten, doch seitdem sie nicht mehr studieren können, arbeiten sie rund um die Uhr für die Revolution. Jeden Tag durchstreift Ahmed das Gassengewirr, filmt die Zerstörungen und Scharmützel zwischen der FSA und den Regierungssoldaten.

Es ist acht Uhr morgens und Ahmed wartet auf einen freien Laptop, um sein Material der Nacht hochzuladen. Er blickt aus müden Augen auf einen Bildschirm und lächelt. Sein Freund Jamal, ein quirliger junger Mann in kariertem Hemd und schusssicherer Weste, auf dessen Kopf ein zu großer Helm wackelt, der ihm ständig ins Gesicht rutscht, hat am Morgen einen Hinterhalt der FSA gefilmt. Auf wackeligen Bildern ist zu sehen, wie ein Panzer erst auf eine Mine fährt und ausbrennt, kurz darauf wird ein zweiter Panzer von einer Panzerfaust getroffen. Die Männer klopfen Jamal auf die Schulter, spulen den Clip in Endlosschleife ab. Während Ahmed und Jamal ihre Filme ins Netz speisen, klettert ein anderer Aktivist auf ein Hochhaus. Die Fernsehsender Al-Jazeera und Orient senden fast täglich Livebilder aus Azaz. Von hier oben hat man einen guten Ausblick auf die Stadt, kann die Panzer beobachten, wie sie in die Stadt vordringen. Schon häufig wurde dieses Gebäude beschossen. Auch die Truppen Assads schauen fern.

Die Revolution erreicht diesen Ort erst spät

Lange war es ruhig in diesem Teil Syriens, nur wenige Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Die Nachrichten aus den Rebellenhochburgen Homs, Hama, Damaskus und Daraa kamen hier nur als Schauergeschichten an. Die Revolution erreichte diesen Ort erst spät. Doch im Windschatten der Schreckensmeldungen aus anderen Teilen des Landes konnten sich immer mehr Orte des Nordens befreien. Auch hier fing es mit Demonstrationen gegen das Regime an. Erst gingen ein paar Dutzend auf die Straße, dann Hunderte, zum Schluss waren es Tausende. Nach und nach verjagten die Menschen die Handlanger der Machthaber; die Bürgermeister, die Polizisten und die Schabiha, die Spitzel und Henker des Regimes.

Abu Anas ist Kommandeur einer der drei Rebellengruppen von Azaz. Ein dünner Mann mit schwarzen Locken und Vollbart. Der 24-Jährige ist sich sicher, dass Azaz bald befreit ist. Täglich rennen Rebelleneinheiten gegen die letzte verbliebene Regierungsbastion an, sprengen Löcher in die Mauern mit selbst gebastelten Bomben aus TNT und Schrauben. Sie werfen nachts Handgranaten auf die Baracken der Soldaten, feuern mit Panzerfäusten und Maschinengewehren, zerstören Panzer. Höchstens sechzig Soldaten und wenige Offiziere sollen sich noch in dem Gebäude verschanzen, schätzt Abu Anas.

Die letzte Hürde auf dem Weg nach Aleppo

Die Rebellen haben den Stützpunkt umzingelt, den Nachschub abgeschnitten. Seit Wochen sind die Truppen Assads ohne Strom, Wasser und Lebensmitteln. Die Munition geht ihnen aus. „Der Sieg ist nahe, Inshallah“, sagt Anas. Sollten die Rebellen die Stadt einnehmen, ist die letzte Hürde auf dem Weg nach Aleppo genommen, Syriens zweitgrößter Stadt, die Armee hätte zudem den strategisch wichtigen Zugang zur türkischen Grenze verloren und die Aufständischen einen Schutzkorridor gewonnen; ein Rückzugsgebiet für Zivilisten und Kämpfer zugleich.

Abu Anas ist ein konservativer Mann, der seine Kraft aus dem Glauben an Allah schöpft. „Ich habe keine Angst vor dem Tod. Wenn ich falle, sterbe ich als Märtyrer.“ Wie alle hier kann auch er nicht verstehen, dass die Welt dem Sterben in Syrien tatenlos zusieht. Er fragt, warum Amerika und Europa nichts tun, um das Morden zu beenden. Und er wird wütend, wenn er von Russland und China spricht, die jeden Resolutionsentwurf im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterbinden. „Wir brauchen Hilfe, wir nehmen jede, die wir bekommen können.“ Der Kommandeur sieht sich das Video an, auf dem er und seine Leute einen Panzer sprengen, die Besatzung stirbt dabei. „Mir tut es leid, wenn die Soldaten um Leben kommen,“ sagt er, den Kopf auf seine Hände gestützt, der Blick ausdruckslos. Er weiß, dass viele Wehrpflichtige darunter sind, die nicht auf der Seite Assads kämpfen wollen, aber müssen. „Die meisten möchten überlaufen, ich helfe ihnen. Aber sie müssen sich entscheiden. Wenn sie bleiben, sterben sie.“

Der Verfall der Regierungstruppen

Die Armee des syrischen Präsidenten löst sich auf. Mehr als 40 000 Soldaten sollen inzwischen desertiert sein. Hubschrauberpiloten oder Grenadiere schießen absichtlich daneben. Offiziere stehen telefonisch mit Aufständischen in Verbindung, verraten Stellungen und Angriffspläne. Wer kann, läuft über, das sagen die beiden einstigen Gefreiten Fawaz, 21, und Faris, 20. Sie haben sich Tücher um ihre Gesichter gewickelt, um ihre Identität zu schützen. Sie erzählen vom moralischen Verfall und Verzweiflung der Regierungstruppen. 16 Monate ihres 18 Monate währenden Wehrdienstes hatten sie abgeleistet, bevor sie fliehen konnten.

„Man hatte uns gesagt, dass wir gegen Terroristen kämpfen“, erzählt Fawaz. Faris sitzt neben ihm und starrt auf seine Hände, die er zu Fäusten geballt hat. „Anfangs habe ich das geglaubt“, sagt Fawaz. Aber dann wurde seine Einheit von Daraa, im Süden des Landes, in den Norden verlegt. Sie zogen von Dorf zu Dorf, von Kleinstadt zu Kleinstadt. Erst Daret Ezzeh, dann Anadan, Marea und Telreffat und schließlich Azaz. Dort, so berichtet Fawaz, sah er, wie Offiziere Zivilisten erschossen, Frauen vergewaltigt und Häuser geplündert haben, wie Artillerie, Panzer und Hubschrauber wahllos in Wohnviertel schossen. „Wir packten Kühlschränke, Fernseher, Schränke und alles, was wir tragen konnten, auf Panzer und Lastwagen.“ Anschließend brannten sie die Häuser nieder. Faris erzählt, dass er gesehen habe, wie ein Offizier einen Kameraden erschoss, der sich weigerte, auf Zivilisten zu schießen.

Viele wollen es ihnen gleichtun, sagen die Deserteure, trauen sich aber nicht aus Angst, beim Versuch getötet zu werden oder ihre Familien zu gefährden. Fahnenflüchtige werden sofort erschossen. Der Großteil der Armee besteht aus Sunniten, die nicht auf ihre Landsleute schießen wollen. Auch Fawaz und Faris suchten lange nach einer Möglichkeit, zu den Rebellen überzulaufen. Aber es vergingen noch Monate bis zu ihrer Flucht. Die erste Gelegenheit ergab sich in Azaz. Sie hatten, obwohl es streng verboten ist, ein Handy zu besitzen, telefonisch Kontakt zum Kommandeur Anas aufgenommen und alles genau geplant. Eines morgen, in aller Frühe, schlichen sie sich aus ihrer Basis. Die Wachen waren nach einem stundenlangen Gefecht vor Erschöpfung eingeschlafen. Hinter der Kaserne wartete Abu Anas auf sie und brachte sie ins Hauptquartier der FSA.

Das Ende der Truppe von Assad

Der Krieg ist von Stadt zu Stadt weitergetragen worden. Er hat längst die Hauptstadt Damaskus und die Wirtschaftsmetropole Aleppo erreicht. In Azaz gehen die Hoffnungen von Kommandeur Anas in Erfüllung. Die Einheiten der FSA stürmen die letzte Bastion der Regierung in Azaz. Tagelang schlugen sie Löcher in Wände, kämpften sich vor von Haus zu Haus, dann stehen sie vor der Moschee, in der sich die Soldaten wochenlang verschanzt hatten und zerstören sechs Panzer. Abu Anas verliert drei Männer. Ein paar wenige Regierungssoldaten können fliehen, mehr als vierzig werden getötet. Ihre Leichen werden im Keller der ehemaligen Geheimdienstzentrale verbrannt. FSA-Kämpfer sprengen die Minarette, in denen sich die Scharfschützen versteckt hielten. Azaz, das letzte Hindernis vor Aleppo, ist befreit und die ersten Flüchtlinge kehren in die Stadt zurück. Auf dem Dach der zerstörten Moschee weht nun die schwarze Flagge der Islamisten.