Libyen entwickelt sich zum größten Unruheherd in der Region. Die Nachbarstaaten leben in Angst, weil der Terror bereits beginnt, auf sie überzugreifen. Der Außenminister in Tripolis ruft die UN zur Hilfe.

Tripoli - Es ist noch nicht so lange her, da platzte dem Innenminister des Niger beim Besuch in Paris ganz undiplomatisch der Kragen. Libyen sei eine Brutstätte des Terrorismus geworden, klagte Massoudou Hassoumi an die Adresse von Frankreich und die Vereinigten Staaten. „Die Mächte, die von außen beim Sturz von Oberst Gaddafi mitgeholfen haben, sollen nun auch die Haftung für die Zeit danach übernehmen“, forderte der Politiker. Der Niger leide unter permanenten Attentaten und Entführungen durch Islamisten, deren Treiben auch den Uran-Abbau bedrohten – die Haupteinnahmequelle seines Landes. Die Antwort aus dem Elysee erfolgte prompt. „Nein, wir schicken keine Truppen“, wehrte Außenminister Laurent Fabius kategorisch ab, räumte aber ein, man sei sich der Probleme bewusst.

 

Ähnlich düster ist auch das Bild, das die Vereinten Nationen von den Zuständen in Libyen zeichnen. Das Land sei „eine Drehscheibe illegaler Waffenlieferungen“ für die gesamte Region geworden. Schultergestützte Boden-Luft-Raketen aus den Arsenalen Gaddafis, mit denen sich auch Verkehrsflugzeuge bei Start und Landung abschießen lassen, sind nach UN-Erkenntnissen bereits in Mali, Tschad, Tunesien, Libanon und Ägypten aufgetaucht. Auf dem Sinai holten Al-Kaida-Terroristen mit dieser Waffe einen Militärhubschrauber vom Himmel. In Libyen selbst sind noch Tausende dieser Geschosse „in den Händen nicht-staatlicher Akteure, die gespannte oder überhaupt keine Beziehungen zum Staat haben“, heißt es in der Analyse für den UN-Sicherheitsrat.

Der Außenminister ruft nach internationaler Hilfe

Selbst Libyens Außenminister Mohamed Abdelaziz warnte dieser Tage, seiner Heimat drohe der Staatszerfall und appellierte an die Vereinten Nationen, spezielle Blauhelme zu schicken, die Polizei und Armee trainieren könnten. „Wir rufen nicht nach einer ausländischen Militärintervention“, erklärte er. „Doch sollte Libyen zu einem gescheiterten Staat werden, als Geisel genommen von radikalen Gruppen und Warlords, dann hätte das weitreichende und vielleicht nicht mehr beherrschbare Konsequenzen.“

Denn alle nordafrikanischen Nachbarn Libyens werden von dem Machtvakuum und dem Niedergang der Post-Gaddafi-Nation mehr und mehr in Mitleidenschaft gezogen. Bei dem spektakulären Überfall auf die Gasförderanlage „In Amenas” vor anderthalb Jahren im algerisch-libyschen Grenzgebiet mit über 60 Toten waren auch libysche Extremisten dabei. Auf tunesischem Territorium hat sich nach Erkenntnissen der Sicherheitsdienste ein breiter Schmuggelkorridor für Waffen aller Art etabliert, von denen ein beträchtlicher Teil auch im Land selbst versickert. Vor zwei Wochen kamen in der tunesischen Grenzregion zu Algerien 14 Soldaten ums Leben und wurden 18 verwundet, als sie in den Hinterhalt einer etwa 60-köpfigen Al-Kaida-Truppe gerieten – der schwerste Terrorakt seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1956. Neun Soldaten verbrannten bei lebendigem Leib in ihren Zelten. „Dies ist offener Krieg, dies ist der Krieg eines Landes und seines Volkes gegen das Böse“, erklärte Heereschef General Souheil Chmengui und schwor, man werde den Terrorismus „Tag und Nacht“ bekämpfen.

Tunesien ruft Staatstrauer aus

Tunesiens Präsident Moncef Marzouki rief eine dreitägige Staatstrauer aus, genauso wie 48 Stunden später sein ägyptischer Amtskollege Abdel Fattah al-Sisi nach einem ähnlichen Terrorüberfall auf ägyptische Grenzer in der Wüste. 22 Soldaten starben, als kurz vor dem Fastenbrechen ein aus Libyen kommendes Kommando mit vier Jeeps den Kontrollposten nahe der Oase Farafra mit Raketen und Maschinengewehren attackierte.

„Dieses abscheuliche Verbrechen wird nicht ohne Antwort bleiben“, ließ Präsident Sissi erklären, der bereits im Frühjahr Schmugglerringe und Terrortrupps auf libyschem Boden als die „größte Gefahr für die Sicherheit Ägyptens“ bezeichnet hatte. Das Chaos nebenan bedrohe seine Nation, erklärte er damals und warf der Nato und den USA vor, sie hätten mit ihrer Bombenkampagne 2011 gegen Gaddafi ein politisches Vakuum erzeugt, das Libyen an „Ex-tremisten, Mörder und Totschläger“ ausgeliefert habe. Und in der Tat, „die Mengen an Waffen, Munition und Drogen, die von Libyen nach Ägypten eingeschleust werden, sind unvorstellbar groß“, räumte ein hoher Offizier gegenüber der in London erscheinenden Zeitung „Asharq al-Aswat“ ein. Rollbahnen im Wüstensand mit Tausenden von Reifenspuren zeugen von den endlosen nächtlichen Konvois. Entlang der 1115 Kilometer langen, schnurgeraden Grenze zu Libyen unterhält Ägypten 35 feste Armeeposten, die jeweils 30 Kilometer voneinander entfernt sind. Doch die ägyptischen Wächter besitzen nur wenige Fahrzeuge, alle zwei Wochen bekommen sie in ihrer Einöde Essen vorbeigebracht. Kein Wunder, dass in den letzten Jahren sogar tonnenschwere Raketen aus dem Iran über Sudan und Libyen, quer durch Ägypten und den Sinai den Weg in den Gazastreifen fanden.

4000 Extrimisten im Trainingscamp

Nach Erkenntnissen des ägyptischen Militärgeheimdienstes existieren auf ostlibyschem Boden inzwischen drei Trainingscamps, in denen zwischen 2000 und 4000 Extremisten im Schießen und Bombenlegen ausgebildet werden. Die Brigaden, die sich „Freie Ägyptische Armee“ titulieren und überwiegend aus Ägyptern, aber auch aus Libyern, Syrern und Palästinensern bestehen, versuchen mit Al-Kaida-Extremisten auf dem Sinai eine zweite Terrorfront gegen die Machthaber in Kairo aufzubauen. Und so scheint auch eine größere Militäraktion Ägyptens im Osten Libyens inzwischen nicht mehr ausgeschlossen. Mit einem solchen Schlag – so räsoniert man möglicherweise in Kairo – ließen sich gleich drei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wenn sich das Volk um die Kriegsfahne schart, bekämen die wachsenden Spannungen in der Bevölkerung über die harsche innere Unterdrückung und den wirtschaftlichen Niedergang ein emotionales Ventil. Gleichzeitig könnte Ägypten auf libyschem Territorium mit den Terrorlagern und ihren gefährlichen Insassen aufräumen. Und seine Führung brächte zudem dringend benötigtes Rohöl unter ihre Kontrolle, mit dem sich die chronischen Versorgungsprobleme lindern ließen.