Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)
Aber Ihre Mutter kam ihrer Fürsorgepflicht ja auch nicht nach.
Erst sehr viel später habe ich gemerkt, dass sie mich mein ganzes Leben lang manipuliert hat. Sie wusste, ich bin hilfsbereit und mitfühlend. Einige Jahre vor ihrem Tod hat sie gesagt: „Du lässt mich aber nicht allein sterben, gell?“ Ich musste mit ihr dann dauernd über das Sterben reden. Sie hat mich da auch wieder reingezogen, alles bei mir abgeladen. So hat sie mich schon als Kind manipuliert, ich bin immer darauf angesprungen.
Das klingt nach einem unguten Abhängigkeitsverhältnis.
Vielleicht wollte ich mit viel Arbeit den Eltern gefallen. Und ich wusste gar nicht: Bist du so hilfsbereit, oder haben sie dir das eingepflanzt? Eingeprügelt? Wie bist du überhaupt? Das spürte ich ewig nicht. Wenn Sie so unterdrückt werden als Kind, wissen Sie gar nichts über sich. Sie schauen in den Spiegel und kennen sich nicht. Sie wissen nicht, wer Sie sind, Sie spüren sich nicht. Ich war immer ein Niemand. Ich hatte das Gefühl, ich habe gar nicht existiert. Ich war nur im Weg, ich war ein lästiger Esser, ich habe keine Zuneigung erfahren. Meine Geschwister sind heiler aus der Sache herausgekommen als ich.
Wie ist es für Sie weitergegangen, als Sie ausgezogen waren?
Ich hatte zuerst einen Job als Haushaltshilfe, habe dann bald meinen Mann kennengelernt. Wir haben geheiratet und in den 60er Jahren zwei Kinder bekommen. Ich hatte den festen Vorsatz, meinen Kindern soll es an nichts fehlen, sie sollten alles haben. Unser Leben war nicht immer einfach. Die Familie meines Mannes hat schon seit vielen Generationen in Weil der Stadt gewohnt, und dann kam so ein Flüchtlingsmädle wie ich dazu aus nicht gerade tollen Familienverhältnissen. Ich habe nichts gehabt, gar nichts. Aber wir konnten bei meinen Schwiegereltern im Haus ausbauen und hatten schon bald ein schönes Heim.
Das Blatt hat sich also endlich gewendet.
In den ersten Jahren mit meinen Kindern war tatsächlich alles sehr schön. 1970 ist dann mein jüngerer Bruder tödlich verunglückt. Ein Autounfall. Da habe ich von einem auf den anderen Tag Depressionen und Panikattacken bekommen. Ich hatte riesige Schuldgefühle. Ich dachte: Warum bin nicht ich verunglückt? Und: Warum sieht niemand, dass es mir so schlecht geht? Alle waren fassungslos, niemand wusste, was mit mir los ist. Ich hatte nie mit jemandem über meine Kindheit gesprochen.
Und das kam jetzt alles wieder hoch.
Ja. Ich wusste, ich muss mir Hilfe suchen. Mein Frauenarzt kannte einen Therapeuten in Stuttgart. Da bin ich dann zweimal in der Woche hin. Ich habe begonnen, alles aufzuarbeiten. Das war ein fürchterlicher Weg von vielen Jahren. Die Angst war das Schlimmste. Ich war eine erwachsene Frau, ich hätte vor niemandem Angst zu haben brauchen, doch dieses Kind in mir war nicht totzukriegen. Ich habe mich trotz allem ganz gut entwickelt, habe 1979 den Führerschein gemacht und mir halbtags eine Arbeit gesucht. Ich habe aber auch gemerkt: was ich erlebt habe, wird nie ganz weggehen. Immer wenn etwas Größeres passiert, wirft es mich wieder aus der Bahn. Ich bin ein Mensch, der unbedingt verstehen muss.
Hatten Sie den Kontakt zu Ihren Eltern ganz abgebrochen?
Zu meinem Vater schon. Ich habe mich erst kurz vor seinem Tod wieder um ihn gekümmert. Nachdem er gestorben war, hatte ich einen Zusammenbruch, musste eine weitere Therapie anfangen. Da habe ich zum ersten Mal gedacht: Jetzt möchte ich mal wissen, was mit diesem Vater überhaupt los war. Warum war der so böse? Kein Mensch wird doch so geboren! Mit dem Hass auf meinen Vater wollte ich nicht alt werden. Diesen Druck in der Brust wollte ich loswerden. So hat meine Suche begonnen. Ich habe den bessarabischen Heimatverein kontaktiert und viele Archive durchgesehen, denn Verwandte kannte ich ja keine.
Was haben Sie gefunden?
Nicht sehr viel. Mein Vater wurde schon mit neun Jahren Vollwaise. Er und seine Geschwister wurden auf Pflegefamilien verteilt. Und so verliert sich deren Spur, ich weiß nicht, was aus den Geschwistern geworden ist. Das war auch immer schlimm für mich. Es gibt niemanden in der Familie, nur Namen, nur Gestalten. Mein Vater ist als Neunjähriger im Nachbarort bei einer Tante untergekommen. Ich habe von einem Zeitzeugen erfahren, dass er noch jahrelang dauernd zum Elternhaus gelaufen ist und sich dort auf die Stufen gesetzt und geweint hat. An seine neue Familie konnte er sich nie gewöhnen. In der Schule ist er kaum gewesen. Irgendwann sprach mein Vater offenbar kaum mehr Deutsch, er war viel mit Russen zusammen. Er hatte eine russische Seele, war sentimental, aufbrausend und konnte sehr gut Kasatschok tanzen. Das war ein ganz komisches Gemisch von einem Menschen. Bloß keine Beständigkeit. Aber die hatte er eben auch nie erfahren.