Verteidigungsminister Pistorius macht sich in Hammelburg ein Bild der so genannten „Mittleren Kräfte“ – ein wichtiger Baustein in der neuen Strategie der Bundeswehr gegen Russland.

Berlin: Tobias Heimbach (toh)

Bevor man sie sieht, hört man die beiden Tiger-Kampfhubschrauber, die über die Hügelkuppen geflogen kommen. Das Geräusch der Rotoren wird lauter, dann donnern sie im Tiefflug über das Dorf am Hang. Die Tiger sichern die Ankunft von fünf weiteren Hubschraubern, die vor dem Dorf landen, Soldaten absetzen und schnell wieder abheben.

 

Die rund 120 Soldaten schießen sich durch die Ortschaft, Rauch steigt auf, mit einem Knall sprengen sie die Tür eines zweistöckigen Hauses auf und sichern das Gebäude. Kurz darauf rollen zwei gepanzerte Transportpanzer vom Typ „Boxer“ in das Dorf, um die Soldaten zu verstärken. Der Ort ist gesichert.

Es ist ein Manöver auf dem Truppenübungsplatz im fränkischen Hammelburg. Es simuliert im Schnelldurchlauf, auf welches Szenario sich die Bundeswehr in den kommenden Jahren vorbereitet. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist persönlich gekommen, um sich vor Ort ein Bild zu machen.

Offizieller Antrittsbesuch des Ministers beim Heer

Auch wenn er schon viele Standorte der Bundeswehr besucht hat, so ist es doch ein besonderer Termin. Pistorius hat seinen offiziellen Antrittsbesuch beim Heer, der größten Teilstreitkraft der Bundeswehr. Sie ist es auch, die das gewährleisten soll, was im Bundeswehr-Jargon als „LV/BV“ bezeichnet wird. Die Landes- und Bündnisverteidigung. Denn sollte die Bundeswehr in einen Kriegseinsatz gehen, dann wäre das an der Ostflanke der Nato, im Baltikum oder in Polen – an der Grenze zu Russland.

Will die Bundeswehr ihren Verbündeten dort zur Hilfe kommen, könnte sie bisher zwei Arten von Einheiten schicken. Das ist erstens die Infanterie, sogenannte „leichte Kräfte“, die schnell mit dem Hubschrauber in den Osten transportiert werden können. Innerhalb von 48 Stunden sollen sie vor Ort sein. Die Soldaten wären schnell da, einem Angriff mit Panzern und schwerem Gerät könnten sie aber nicht lange standhalten.

Deshalb könnte Deutschland bisher neben den leichten Kräften auch Kampfpanzer wie den 60 Tonnen schweren Leopard 2 oder den Schützenpanzer Puma schicken. Diese Einheiten verfügen über eine hohe Feuerkraft. Das Problem: Sie an die Ostflanke der Nato zu verlegen, würde Wochen dauern. Sie müssen aufwendig auf Güterzüge verladen und transportiert werden.

Verlegung über die Straße

„Diese Lücke wird mit den Mittleren Kräften geschlossen“, sagt Pistorius nach der Übung. Sie sollen die Schwächen der leichten und schweren Einheiten ausbalancieren. Sie kombinieren eine hohe Feuerkraft, können sich aber schnell bewegen, weil sie auf Radfahrzeuge setzen, die sich im „Straßenmarsch“ selbst bewegen können. Deutschland setzt auf Abschreckung auf Achse. Ab 2025 sollen die Mittleren Kräfte innerhalb von zehn Tagen an die Ostflanke der Nato fahren und dort das Gefecht so lange führen können, bis die schweren Kräfte eingetroffen sind.

Kern dieser neuen Kräfte ist der GTK Boxer, ein acht Meter langes gepanzertes Fahrzeug mit vier Achsen. Wie bei einem Lego-Baukasten ist es modular aufgebaut. Die gleiche Plattform kann unterschiedlich genutzt werden: als Truppentransporter mit MG auf dem Dach, als Sanitätsfahrzeug, als Radhaubitze mit Artilleriekanone oder als Radschützenpanzer mit leistungsstarker 30-Millimeter-Kanone und Panzerabwehrraketen.

Eine der wichtigsten Waffen steht noch nicht zur Verfügung

Verteidigungsminister Pistorius klingt bei seinem Besuch zufrieden mit der Vorführung der Truppe. „Ich bin beeindruckt von der Leidenschaft der Truppe“, sagt er. Er konnte sich beim Übungsangriff auf das Dorf aus erster Reihe ein Bild machen, lief mit den Truppen mit.

Doch wie so oft bei der Bundeswehr gibt es auch bei den Mittleren Kräften viele Leerstellen. Pistorius spricht sie selbst an: „Wir haben heute den Schweren Waffenträger im Einsatz gesehen – er war nur nicht da.“ In einer weiteren Übung wurde er lediglich „simuliert“. Denn die Version mit 30-Millimeter Kanone und Raketen, die im Kampf an der Nato-Ostflanke wirklich einen Unterschied machen würde, gibt es noch nicht bei der Truppe. Ab 2025 soll die Bundeswehr sie bekommen, so zumindest der Plan. Einen unterschriebenen Vertrag gibt es freilich noch nicht, auch der Bundestag hat noch kein Geld dafür freigemacht. Solange das nicht passiert ist, gibt es keine durchhaltefähigen Mittleren Kräfte. Und die Abschreckung besteht höchstens auf dem Papier.