Filmfestival als Tortur: mit lachhaften Mitteln quält Takeshi Kitano, aufs Menschlichste peinigt Alejandro Iñárritu.

Cannes - Zu den unvermeidlichen Erlebnissen in Cannes gehört das Gefragtsein. Kaum strebt der Besucher, fortgerissen vom Rudel der Aufbrechenden, nach Filmschluss hinaus aus dem Festivalsaal, hält ihm draußen ein Mikrofonbesitzer sein Ding unter die Nase: "Wie hat Ihnen der Film gefallen?" Gefallen, haha! Besser sollte man fragen, wie sehr der Film an die Nieren ging, wie magenumstülpend er war.

Nach Takeshi Kitanos blutspritzendem Thriller "Outrage" war dem Publikum speiübel. Die Leute wussten nicht, sollten sie wegsehen oder in Ohnmacht fallen. Kitano ist ein berühmter Mann, ein Regisseur, der seit je knallharte, aber in ihren Ruhemomenten berührende, poetisch-stilvolle Kinodramen zu drehen weiß; allein, die Poesie hat Kitano im neuen Film, mit dem er thematisch in die brutale Gangsterwelt der Yakuza zurückkehrt, beiseitegelassen.

Diesmal will er alles zeigen, was Japans organisierte Kriminalität so draufhat: Fingerglieder abschneiden, Hirne schroten, Hände hacken (und in Reisschalen servieren), mit Zahnarztbohrern wüten, Essstäbchen durch Ohren drücken - wie gesagt, da heißt's für den Zuschauer, Entscheidungen treffen, sofern sich nicht etwas Drittes einstellt, das Kippphänomen. Das Kippphänomen kennt man vom Oberammergauer Herrgottschnitzer, der seinem Kruzifixheiland besonders schmerzliche Züge einkerben wollte, deshalb tiefer und tiefer schnitt - und plötzlich rief: "Jessas, jetzt lacht er!" Genauso erging es dem großen Kitano in Cannes: die Leute lachten.

Javier Bardem spielt atemberaubend in Dreck und Elend


Anderntags schien an der Croisette erstmals die Sonne, aber sonderlich aufgeräumt schritt man wieder nicht aus dem Kino. Im Gegenteil, jetzt war man stumm vor Jammer, fassungslos. Denn bedrückender, erschütternder, entsetzlicher als die Geschichte, mit welcher der mexikanische Regisseur Alejandro Gonzáles Inárritu uns zur Teilnahme nötigt, kann eine Kinogeschichte kaum sein.

Wispernd wie im Delirium, im traumhaft-zärtlichen Gespräch zwischen Vater und Kind, so beginnt's - und springt sofort um in die trostlose Realität einer Krankenhausszene, wo ein Mann herrisch das Injizieren an sich selber vornimmt, weil die Schwester unfähig ist, die Spritze zu setzen. Der Mann lebt in Santa Coloma, Barcelonas verrotteter Immigrantenenklave, ein Kleinkrimineller und Gelegenheitsdealer mit Schuldgefühlen - die chinesischen Arbeiter, die er illegal vermittelt, beutet er aus, und die billigen Gasflaschen, die er fürs Barackenlager besorgt, bringen Dutzenden von Immigranten den Erstickungstod.

Sein Leben ist gescheitert, trotzdem will er ein Guter sein, ein Mann mit Hoffnungen und unbeirrtem Jenseitsglauben, einer, der selber noch den Vater sucht und der die eigenen Kinder so wenig aufgibt wie die Ehefrau, die ihm ins Dirnenmilieu entronnen ist. "Wie schreibt man ,beautiful', Papa", fragt ihn die Tochter einmal. "Biutiful", antwortet er. Nicht von ungefähr ist der Schreibfehler auch Titel des traurigen Films - Sinnbild für den Schönheitsfehler in einem Menschenleben.

Man kann sagen, die Story sei simpel, doch Inárritu erzählt sie eminent stark. Sein Film schneidet ins Eingeweide, aber anders als Kitanos Knallfilm auch ins Herz. Blutpinkelnd erlebt der Mann, dem die Krebsdiagnose gestellt ist, letzte Tage des Elends in Drecksrevieren von unfassbarer Verschmuddelung, wo Polizei die Chinesen, Rumänen, Senegalesen in wahren Stampeden vor sich herhetzt, gefilmt in flirrenden, leinwandzerfetzenden Szenen. So grandios die Regie, so atemraubend Javier Bardem in der Rolle des Manns, der sich dem Elend entgegenstemmt. Seine starken Schultern tragen den Film bis ans erbärmliche Ende. Nein, "Biutiful" ist kein Film fürs Gefallen - er bedrängt, er wirft um. Und kein Zweifel, Javier Bardem gehört schon heute die Darstellerpalme.