Die Aufhebung der Schwerkraft: Das Kunstmuseum Basel zeigt die großartige Ausstellung „Chagall – Die Jahre des Durchbruchs“

Basel - Als Signet und Werbemotiv dient ein frühes Selbstbildnis, das hoch oben am kalksteinweißen Museumsgebäude prangt. Wer es nicht kennt, dürfte es als Porträt einer jungen Frau deuten, so feminin hat sich Marc Chagall auf dem frühen Ölgemälde dargestellt. Rätselhaft und ausdrucksvoll ist alles an dem Bild: von dem abstrakten Hintergrund über die nahezu geometrischen Gesichtszüge mit den elliptischen Augen und dem wie mit dem Zirkel gezogenen Schwung der Wangenknochen bis zu Habitus und Mimik. Der Kopf ist leicht schräg gestellt, mit angedeutetem Lächeln, so unergründlich und vieldeutig wie das einer Sphinx.

 

Das Selbstbildnis von 1914 ist nicht das beste Beispiel für den Realismus, den die Ausstellung „Chagall – Die Jahre des Durchbruchs 1911-1919“ im Kunstmuseum Basel für jene acht Jahre beobachtet, die der Künstler nach der frühen Zeit in Paris gezwungenermaßen in seiner weißrussischen Heimat verbrachte. 1911 (nicht bereits 1910, wie bisher immer angenommen wurde) war er von Witebsk nach Paris übergesiedelt. Noch keine 27, kehrte er 1914 als bereits arrivierter junger Maler zurück. Drei Monate nur wollte er in der alten Heimat verbringen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang ihn zum Bleiben.

Die Ausstellung fokussiert auf das Frühwerk Chagalls, nicht der schlechteste Teil seines umfangreichen Oeuvres. Grundstock des Querschnitts ist die Gruppe hochkarätiger Gemälde, die sich in Museumsbesitz befindet oder dem Ausstellungshaus als Dauerleihgaben zur Verfügung stehen. Neben einigen sehr frühen, noch in Witebsk entstandenen Werken – etwa dem erstaunlich selbstbewussten und originellen „Selbstbildnis mit Pinseln“ von 1909 des Zweiundzwanzigjährigen – stehen die Jahre von 1911 bis 1919 im Zentrum.

Paris hier, Witebsk dort

In Paris findet Chagall rasch Aufnahme in Künstler- und Literatenkreisen. Er verkehrt mit Robert und Sonia Delaunay, Picasso und Guillaume Apollinaire. Als junger Künstler befindet er sich im Zentrum der künstlerischen Avantgarde der Zeit, doch seine ostjüdische Herkunft verleugnet er keineswegs. Sie wird ihm lebenslang eine unerschöpfliche Quelle seiner Bildfantasie bleiben. So spannt sich das Frühwerk zwischen den beiden motivischen Polen des jüdischen Schtetls in dem noch ländlich geprägten weißrussischen Witebsk auf der einen und der Weltstadt Paris auf der anderen Seite aus. Diese Spannung verleiht dem Frühwerk sein unverwechselbares Gepräge. Die beiden so unvereinbar scheinenden Sphären verbindet Chagall in magischer Synthese zu einer Hybridwelt, in der die ländliche Provinz sich zum Urbanen öffnet und das seelenlose Treiben der Weltstadt mit Empfindung aufgeladen erscheint. Als Wanderer zwischen den beiden Welten bringt Chagall malend und zeichnend die russische Volkskunst wie auch die Redewendungen seiner jüdischen Herkunft in die Moderne ein.

Bereits frühe Gemälde der Pariser Jahre wie das expressive „Gelbe Zimmer“ oder „Der heilige Droschkenkutscher“ sind künstlerisch auf der Höhe der Zeit. Ja, mitunter erscheinen sie surrealistisch avant la lettre – wie das Gemälde „Paris durch das Fenster“ mit seinen schwerelos in den Lüften treibenden Menschen, einem Januskopf und einer Katze mit menschlichem Antlitz. Das Gemälde kündet gleichzeitig vom Einfluss des Kubismus wie des russischen Rayonismus. Nicht nur in diesem Bild führt Chagalls entfesselte Fantasie zu einer bildnerischen Aufhebung der Schwerkraft.

Tabak schnupfender Rabbiner

Glanzstücke der starken Präsenz jüdischer Sujets schon im Pariser Frühwerk sind die vier in Witebsk entstandenen „Großen Rabbiner“, die in Basel erstmals wieder vereint sind. Die über dem winterlich verdüsterten Witebsk schwebende jüdische Figur in einem Gemälde von 1914 aber mag als Allegorie der Verwerfungen zu deuten sein, die der Krieg in die Gesellschaft und den Alltag der Menschen brachte. In Witebsk entstehen zugleich realistische Impressionen des Alltagslebens sowie familiäre Szenen und Porträts. Nicht nur in der Bleistiftzeichnung „Krieg (Der Zeitungsverkäufer“) oder in „Der Zeitungsverkäufer“ in Öl hält Chagall die Not der Kriegsjahre geradezu dokumentarisch fest.

Der Revolution in Russland bringt Chagall anfänglich Sympathien entgegen. Dass sein Tabak schnupfender Rabbiner („Die Prise“, 1926) wenige Jahre später in Nazideutschland als „kulturbolschewistisches Machwerk“ denunziert und museal aussortiert wird, um 1939 für Basel erworben zu werden, macht das Gemälde zugleich zu einem historischen Dokument.

Bis 21. Januar, Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr.