Für den FC Bayern ist der Champions-League-Titel ein Triumph über die Vergangenheit. Die Fans sind gerührt und schwelgen im Glück. Auch die Dortmunder gönnen sich in London eine Party, auf der sie sich gegenseitig trösten.

London - Hektisch zieht Norbert Dickel an seiner Zigarette, er kommt lange vor dem Anpfiff zum Stadion nach Wembley und ist jetzt schon ganz aufgewühlt. Im Fahrstuhl in der Arena wird er gleich sagen, er sei noch nie so fertig gewesen, schlimmer ginge es nicht. Dickel war früher Profi bei den Dortmundern, heute ist er Stadionsprecher, Fan-Reporter beim BVB-Webradio, eine Kultfigur des Vereins. Das Finale steht an, das erste Endspiel zweier deutscher Mannschaften im schicksten Vereinswettbewerb des Fußballs. Und dann auch noch in diesem Stadion, in dem England gegen Deutschland 1966 seinen einzigen WM-Titel durch die berühmteste Fehlentscheidung in der Geschichte dieses Spiel gewonnen hat. Aber es ist nicht nur das. Am Ende dieses Abends wird Dickels Aussage aus dem Fahrstuhl nicht mehr gelten. Es kommt für ihn noch weitaus schlimmer.

 

Noch eine Stunde nach dem Abpfiff laufen die Spieler des FC Bayern freudetrunken über den Rasen. 2:1 haben sie den BVB besiegt. Arjen Robben hat das entscheidende Tor in der 89. Minute erzielt, ganz langsam, aber unaufhaltsam rollte der Ball ins Netz. Es ist der Moment, in dem sich die Münchner zum zweiten Mal nach 2001 zur besten Clubmannschaft Europas aufschwingen, jedenfalls, seit die Champions League 1992 den Europapokal der Landesmeister abgelöst hat.

Ein Titel für alle im Verein

Der Kapitän Philipp Lahm sagt später, dieser Titel sei für jeden Einzelnen, der im Verein mitarbeitet. „Das geht beim Zeugwart los bis hin zu den Fans. Nicht nur hier, sondern auch in Deutschland, auf der ganzen Welt.“ Ziemlich viele Mitwirkende hat Lahm da ausgemacht, aber unter der ganzen Welt geht es nicht. Für die Münchner Glückseligkeit reicht selbst die kaum aus.

Die Kameras fangen Menschen in rot-weißem Fangewand auf den Tribünen ein, denen die Freudentränen an den Wangen herunterlaufen. Unten auf dem Platz sind die Kicker zu sehen, die entrückt herumtollen, die ihren Trainer Jupp Heynckes in die Luft werfen und die all das Glück, das sich da über und in ihnen ausschüttet, gar nicht kanalisieren können. Sie lassen sich einfach treiben vom Augenblick und mitreißen vom nächsten. Die Abstände dieser Augenblicke sind in etwa so kurz wie vorhin die Züge Norbert Dickels an der Zigarette.

Ulie Hoeneß wird vom Glück übermannt

Kurz nach der Pokalübergabe auf der Ehrentribüne, als Bastian Schweinsteiger den Henkelpott Uli Hoeneß reicht, kann man das gut beobachten. Der Präsident ist gerade nicht auf Öffentlichkeit bedacht, die Steueraffäre, die Selbstanzeige, der nur gegen Kaution ausgesetzte Haftbefehl. Er kann jetzt eigentlich nicht präsidieren. Hoeneß macht eine abwehrende Handbewegung, doch dann, man sieht es in seinem fast verliebten Blick, übermannt es ihn.

Ganz sachte berührt er den Pokal, er sieht aus wie ein stolzer und zugleich verlegener Papa, verschämt, weil er sich etwas Schwerwiegendes zuschulden kommen lassen hat. Aber auch er lässt sich mitreißen und hält den Pokal kurz in die Höhe. Die Fans des FC Bayern rufen „Uli, Uli, Uli“, so wie sie kurz zuvor auch „Jupp, Jupp, Jupp“ gerufen haben, der bald sein Karriereende verkünden wird. Für sie geht es jetzt nur um dieses einzigartige Glücksgefühl.

Es ist eine Stück Vergangenheitsbewältigung

Der Sieg im Finale von Wembley ist für den FC Bayern und seine Anhänger ein Triumph über die Vergangenheit. 2010 haben sie das Endspiel der Champions League gegen Inter Mailand verloren, verdient und deutlich. Dann schwang sich der BVB auf, die Münchner fünfmal hintereinander zu besiegen. Zwei Meistertitel und ein Pokalsieg durch ein demütigendes 5:2 im Finale des Vorjahres in Berlin sprangen dabei heraus. Und dann war da noch das geradezu epische Scheitern der Bayern gegen Chelsea im Elfmeterschießen im Finale der Champions League vor zwölf Monaten.

Auch damals sah man Menschen in rot-weißem Fangewand auf den Tribünen, denen die Tränen an den Wangen herunterliefen. Es waren Tränen der tiefen Enttäuschung, der Fassungslosigkeit über diese dramatische, schier unerträgliche Niederlage in der eigenen Arena. Am Samstagabend weinen die Fans aus Ergriffenheit. Die Bayern sind wieder da. Meister, Gewinner der Champions League. Am kommenden Samstag könnte das bisher nie erreichte Tripel folgen, durch einen Sieg im Pokalfinale gegen den VfB Stuttgart.

Das Finale von Wembley hat auch etwas über die vereinnahmende Wucht des Fußballs erzählt. Das ist auch aus München zu vernehmen, wo beim Public Viewing in jener Arena, in der das Drama gegen Chelsea seinen Lauf nahm, die Fans ähnlich entrückt auf den Rasen laufen wie die Spieler in London. Mit bloßen Händen gräbt ein Mann jenen Elfmeterpunkt in der Münchner Arena aus, von dem Schweinsteiger vor einem Jahr den letzten Ball an den Pfosten getreten hatte. Auf der Leopoldstraße feiern in der Nacht rund 150 000 Menschen trotz Terrorwarnung des Bundeskriminalamtes eine gigantische Party, und es bleibt ruhig im ganzen Land. Währenddessen sagt in London Karl-Heinz Rummenigge, der Vorstandschef des FC Bayern, beim Bankett vor 1800 Gästen im Grosvenor House: „Das war das Sport-Comeback des Jahres.“

Die Dortmunder sind traurige Verlierer

Ein paar Kilometer weiter trösten sich im National History Museum die Borussen gegenseitig. Sechs schwarze-gelbe Palastwachen in eigens geschneiderten BVB-Anzügen haben die Dortmunder vor dem herrschaftlichen Portal postiert. Reglos wie ihre echten Kollegen stehen die Herren auf der Treppe, dumm nur, dass es keine Könige zu bewachen gibt. Die neuen Herrscher des europäischen Clubfußballs kommen aus Bayern, hier auf dem Fest des Revierclubs sind nur ein paar Verlierer zu beaufsichtigen. Stolze Verlierer zwar, darauf haben die Dortmunder in ihren Erklärungen nach der Niederlage gegen den FC Bayern explizit hingewiesen, aber eben auch sehr traurige Verlierer.

Der Pokal fehlt ihnen schmerzlich, und deshalb wirkt die Party irgendwie viel zu aufgedonnert. Im Schatten gewaltiger Dinosaurierskelette werden edle Snacks, Champagner und natürlich auch reichlich Bier gereicht. Unter der Galerie des Hauptsaals hängen barock gerahmte Bilder von den großen Momenten der Dortmunder Clubgeschichte, und auf der Bühne versucht Schlagerstar Helene Fischer die Gäste aufzumuntern.

Von der Enttäuschung zum Stolz auf das Erreichte

Aber auch die Worte des Sängerin helfen nicht wirklich gegen den Schmerz, der in den imposanten Museumshallen auf die Stimmung drückt. Zu viele Tränen sind zwei Stunden zuvor auf dem Rasen von Wembley geflossen. Und es klingt bemüht, als Kapitän Sebastian Kehl tapfer behauptet, dass die Enttäuschung relativ schnell abgeklungen sei. Er selbst empfinde schon wieder „vorrangig Stolz“. Wer in die Gesichter der Jüngeren schaut, sieht ganz andere Gefühle, da sind die Lippen schmal, die Blicke leer, die Gesichter blass.

Innenverteidiger Neven Subotic war die Jubelarie der Münchner im Stadion eineinhalb Stunden vorher derart an die Nieren gegangen, dass er während der gesamten Siegerehrung in die andere Ecke des Stadions starrte. Andere lagen minutenlang regungslos auf dem Boden. „Wer weiß, ob so eine Gelegenheit noch einmal wiederkommt“, sagt Torwart Roman Weidenfeller bei der Party danach. Diesen Gedanken haben sicher viele Spieler, während sie in der Londoner Frühlingsnacht zwischen Spinosaurus, Camarasaurus und Triceratops an ihren Getränken nippen und den vielen verpassten Möglichkeiten nachtrauern.

Der Kraftakt von Wembley

Auf dieser Ebene funktionieren die Fußballer nämlich wie die meisten Fans: Immer wieder erscheinen Erinnerungen an bestimmte Spielszenen vor dem inneren Auge. Wäre hier oder da eine andere Entscheidung getroffen worden, wäre vielleicht alles anders gekommen. „Wir hätten aus unserer Überlegenheit in der ersten Halbzeit ein Tor machen müssen, dann hätten wir die Bayern am Haken gehabt“, sagt Kehl, aber solche Konjunktive können einen auch in den Wahnsinn treiben. Das haben die Bayern im vergangenen Jahr erlebt, und sie haben ihr Trauma an diesem Abend von Wembley mit einem Kraftakt aus der Welt geschafft. Vielleicht ist das ja ein Gedanke, der den Dortmundern dabei hilft, bald wieder die schönen Seiten ihrer Europapokalsaison zu fühlen.

Am frühen Sonntag, auf dem Flughafen Gatwick südlich von London, sieht es aus, als seien alle deutschen Fans, die in Wembley waren, eingefallen. Aber die Blicke sind leer, die Menschen sind erschöpft. Keine Gesänge, kein Jubel. Es herrscht beinahe Stille, nur ein gedämpftes Gemurmel der Massen. Wer das Ergebnis des Spiels nicht kennt, könnte denken, die Bayern hätten das Finale verloren. Es waren wohl zu viele Momente des Glück hintereinander oder auf einmal. Sie waren wohl noch nie so fertig wie jetzt.