Der Bestsellerautor Christian Kracht reist in seinem neuen Roman „Imperium“ in die Südsee. Das Buch endet mit einer originellen Pointe.

Köln - Wo eine ökologische Krise die andere jagt, Lebensmittelskandale das Vertrauen in die kapitalistischen Produktionsweisen erschüttern und (westeuropäische) Großstädter auf ihr kaum vorhandenes Leid mit der Sehnsucht nach dem Ursprünglichen reagieren, da tummeln sich prompt auf dem publizistischen Feld Geschichten von Aussteigern, die den Glauben an ein „anderes“ Leben hochhalten. Sachbücher von Karen Duve oder Jonathan Safran Foer werden den Buchhändlern aus der Hand gerissen, und Zeitschriften, die „Landlust“ heißen, suggerieren zivilisationsmüden Zeitgenossen, wie schön es ist, Seit an Seit mit Jean-Jacques Rousseau integeren Ziegenkäse zu verzehren. Dass es sich dabei um Krisenphänomene in zunehmend säkularisierter Zeit handelt, zeigt sich auch daran, dass Literatur und Film plötzlich in der Schatzkiste der Geschichte zu kramen beginnen und Vorläufer aus der Versenkung hervorholen, die belegen, dass unter der Sonne selten viel Neues zu finden ist.

 

Beileibe nicht der Erste

Auch Christian Kracht widmet sich in seinem neuen, vierten Roman einem Sinnsucher aus vergangenen Tagen, dem 1875 in Nürnberg geborenen Apothekengehilfen August Engelhardt, der vor gut einhundert Jahren zum viel diskutierten Sektierer avancierte und dessen Biografie zudem eng mit dem deutschen Kolonialismus verbunden ist. Kracht ist beileibe nicht der Erste, der sich in letzter Zeit auf Engelhardts Spuren begeben hat. Sein Kollege Marc Buhl veröffentlichte vor einem Jahr bei Eichborn den wenig beachteten Roman „Das Paradies des August Engelhardt“, und bereits zuvor hatten sich Journalisten und der TV-Historiker Guido Knopp des wunderlichen Nudisten und Vegetariers angenommen.

Krachts Roman setzt im Jahr 1902 ein, als sich der des dekadenten Lebens überdrüssige Engelhardt nach Deutsch-Neuguinea aufmacht, wo die Träume eines deutschen Weltreichs blühen sollen. Von der legendären Unternehmerin Emma Forsayth erwirbt er die zum Neulauenburg-Archipel (Duke-of-York-Inseln) gehörende Insel Kabakon, wenige Seemeilen entfernt vom deutschen Gouverneurssitz Herbertshöhe. 75 Hektar umfasst Engelhardts Kokosplantage, von der aus er in den kommenden Jahren den Segen dieser so sonnennah wachsenden Frucht predigen und als „Kokosnussapostel“ bezeichnet werden wird. Rigoros verficht der belesene Gründer des „Sonnenordens“ einen Lebensstil, der mit Kleidern, den „Symbolen einer überholten, lange müde gewordenen Außenwelt“, nichts im Sinn hat und in Ernährungsfragen ausschließlich auf die Frucht der vielseitig nutzbaren Kokosnuss setzt. Engelhardt, ein Hippie avant la lettre, versucht sich als Unternehmer und zieht alsbald Verehrer aus dem fernen Deutschland an, wo man sich Anfang des 20. Jahrhunderts generell aufgeschlossen für obskure Heilslehren zeigt.

Ironische Distanz

Christian Kracht geht von den ersten Zeilen an auf ironische Distanz zu seinem fränkischen Helden. Er wählt eine bewusst altmodische, offenkundig in der Gegenwart angesiedelte Erzählerfigur, die sich eines gepflegten, mitunter manierierten Stils bedient, der mit dem Konjunktiv seine Probleme hat. Mit leichter Hand entwirft er Szenen, die von nicht geringer Komik sind und sich souverän aus den Fesseln des historisch Überlieferten befreien.

Zweimal empfängt Engelhardt von ihm angetane Besucher, deren Aufenthalt indes nur kurze Zeit Freude auslöst. Den aus Helgoland stammenden Heinrich Aueckens schildert Kracht als Homosexuellen, der jungen Eingeborenen nachstellt und sechs Wochen nach seiner Ankunft auf mysteriöse Weise umkommt. Auch der Berlin-Flüchtling Max Lützow, Kapellmeister seines Zeichens, der Engelhardts Lehre vom „Kokoverismus“ aufgreift und mit frühkommunistischen Doktrinen verbindet, erregt alsbald den Zorn des Meisters und begibt sich – eine schöne Erfindung Krachts – in den Ehehafen mit Forsayth, was jedoch nicht verhindert, dass er kurz darauf einen kuriosen Unfalltod erleidet.

Umstrittener Gegenwartautor

Kracht, der mit seinem Debüt „Faserland“ längst in die deutsche (Pop-)Literaturgeschichte eingegangen ist, gilt als einer der umstrittensten Gegenwartsautoren, dessen zur Schau getragene Dandyattitüde nicht leicht zu ertragen ist. Kein Wunder also, dass der „Spiegel“ das Erscheinen des Romans zum Anlass nahm, obskure Rassismusvorwürfe an die Adresse des Autors zu richten, und jede literaturkritische Sorgfaltspflicht fahren ließ. Dabei wirkt Christian Krachts Welterklärungssnobismus in „Imperium“ selten penetrant und abgemildert, wenngleich nicht zu übersehen ist, dass Krachts Neigung, Pirouetten um der Pirouetten willen zu drehen, kaum schwächer geworden ist.

So amüsant es sein mag, dass er Thomas Mann, Jack London, Hesse, Nabokov oder Dickens aufmarschieren lässt, und so intelligent es ist, wenn er den zur Ermordung Engelhardts ausgesandten Kapitän Slütter aus Hugo Pratts Comic „Südseeballade“ entlehnt, so wenig trägt dieses postmoderne Spiel auf Dauer zur Klärung der Frage bei, warum Christian Kracht so viel Aufwand betreibt, uns Engelhardts Heilslehren nahezubringen.

Vorgriff auf „Finsternistheater“

Krachts „Chronik“ scheint, das deuten einige sich mit raunend-betulichen Erklärungen an den Leser wendende Passagen an, darauf abzuzielen, die Abkehr von der modernen Zivilisation als einen „Schritt zurück in die exquisiteste Barbarei“ und als Vorgriff auf das „Finsternistheater“ des Nationalsozialismus zu interpretieren. Spätestens, wenn Krachts Erzähler (dessen Großeltern – in einer ganz aus dem Erzählgefüge herausfallenden Szene – einst die Judendeportationen in Hamburg ignorierten) dazu übergeht, Hitler als gescheiterten Maler und „kleinen Vegetarier“ zu karikieren, der eine „absurde schwarze Zahnbürste unter der Nase trug“, zeigen sich überdeutlich die Grenzen dieses Erzählens aus der Armsesselposition. Das ist weder intelligent noch originell.

Immerhin endet Krachts Roman mit einer aparten Pointe. Nachdem der reale, zunehmend unter Unterernährung und Psychosen leidende Engelhardt gerade mal das Ende des wilhelminischen Imperiums erlebte, ehe er 1919 auf Kabakon starb, ist seinem fiktiven Alter Ego ein längeres Dasein vergönnt. Als „uralter weißer Mann“ überlebt er den Zweiten Weltkrieg auf dem Salomonen, wo ihn amerikanische Marinesoldaten auftun und ihm mit Hot Dogs und Musik made in USA die Lebensfreude des neuen „Imperiums“ einhauchen wollen. Das zumindest ist originell.

Christian Kracht: Imperium. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 243 Seiten, 18,99 Euro.