Das Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und die Verfilmung des Junkielebens von Christiane F. schockten vor vier Jahrzehnten Deutschland. Arte zeigt den Film und zwei Dokus dazu.

Stuttgart - Fragt man Menschen, die in den späten 70er und frühen 80er Jahren hierzulande erwachsen wurden, nach prägenden Lese- oder Kinoerlebnissen, bekommt man oft „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ genannt, den Lebensbericht einer 15-jährigen Berliner Drogenstricherin. Zunächst hatte das von den Journalisten Horst Rieck und Kai Hermann auf Basis langer Interviews verfasste Manuskript kein Verlag haben wollen. Dann veröffentlichte der „Stern“, damals als Reportagemagazin noch sehr renommiert, Auszüge aus der Geschichte in gleich zwölf Fortsetzungen.

 

Die Republik war erschüttert, die Buchfassung wurde ein Bestseller, der Produzent Bernd Eichinger und der Regisseur Uli Edel machten daraus einen der seltenen internationalen Erfolge des deutschen Kinos. Im Ausland aber musste der Film teils geschnitten werden. Zu schonungslos zeigt er, wie mitten in der Stadt, ganz normale Teenager in die Hölle absacken.

Schmuddel ohne Abschreckungseffekt

„Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, der am Mittwoch um 20.15 Uhr bei Arte zu sehen ist, stellt eine enorme Provokation dar. Aber nicht, weil er das Junkie-Elend so drastisch zeigt. Sondern weil er vorführt, dass dieses Elend auf manche Kids keinerlei Abschreckungseffekt hat. Natja Brunckhorst spielt eine vermeintlich zarte und naive Christiane, die das erste mal in ihrem Leben in eine jener Discos kommt, in denen es angeblich richtig spannend zugeht. Sie sieht kaputte Typen, erlebt grobe Anmache durch ungelenke Jungs und scheint nicht einen Moment lang fröhlich sein zu können. Trotzdem ist sie fasziniert. Sie hängt hier fest, noch bevor sie das erste Mal Heroin nimmt.

Der Film, der einst fünf Millionen Besucher in die deutschen Kinos lockte, wirkt auch heute noch. Gerade darum ist es ein Glück, dass Arte ihn nicht alleine ins Programm stellt, sondern zwei spannende Dokumentationen folgen lässt. Eben weil der Film noch wirkt, könnte man meinen, damals habe er genau so gewirkt. Dass er aber viel aufrüttelnder war, auf mehr Unwissenheit und Illusionen traf, dass Buch und Film Politik und Justiz in Bewegung brachten, nicht immer in die richtige Richtung, ist heute auch nicht mehr all jenen präsent, die damals Leser und Kinogängerinnen waren. Geschweige denn jenen, die nur die Neuverfilmung als Streamingserie kennen. Silvia Palmigianos Doku „Kino im Rausch“ und Claire Laboreys „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo: Lost Generation“ gehen also den Kontexten und Befindlichkeiten von damals erhellend nach. Sie folgen beide keiner fixen Agenda, nehmen Widersprüche zur Kenntnis und lassen sie stehen.

Rückfälle und Talkshows

Waren Buch und Film heilsame Mittel der Abschreckung? In manchem Einzelfall gewiss. Und dass der Fallbericht Schullektüre wurde, hat für manchen die ganze Drogenszene zum Schulstoff gemacht, also zu etwas verhasst Langweiligem, dem man am besten aus dem Wege geht. Aber durch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ist auch Neugierde geweckt worden. Ein Gruseltourismus zu den Schauplätzen setzte ein, teils schon bei Vorpubertierenden, und so kamen Kids mit der Junkieszene in teils verhängnisvolle Berührung, die sonst nie in die Nähe eines Spritzenbestecks geraten wären.

Ein abschreckendes Beispiel, das Opfer, dessen Leid andere rettet: das ist eine der Rollen, die man Christiane Felscherinow zugeschrieben hatte, der Frau hinter dem Kürzel. Lichtgestalt, die es herausschafft aus dem Sumpf, war eine andere: Felscherinow wurde gefragter Talkshowgast und zeitweilig clean. Dann wechselten Rückfälle und Kontrollphasen, immer unter dem Neugierdruck der Öffentlichkeit und eines schockwertbewussten Boulevards. Auch davon erzählen die Dokumentationen. Dann wird der alte Konflikt greifbar – zwischen der Notwendigkeit, hinzuschauen, und der Verpflichtung, fremde Privatsphäre zu respektieren.

Christiane-F.-Schwerpunkt. Arte, Mittwoch, ab 20.15 Uhr. Auch in der Mediathek.