Der vor hundert Jahren geborene Mathematiker Alan Turing legte den Grundstein für den Computer. 1954 tötete sich der Brite unter dramatischen Umständen.

Stuttgart - Wo immer der Name Alan Turing fällt, findet mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gerade eine Debatte darüber statt, ob eine Maschine intelligent sein kann oder nicht. Denn Turings Antwort auf diese Frage gehört zu den Dingen, die den vor hundert Jahren geborenen Logiker und Mathematiker über die Fachwelt hinaus berühmt gemacht haben. 1950, Turing war 38 Jahre alt und stellvertretender Direktor des Computing Laboratory an der Universität Manchester, schlug er den später sogenannten Turing-Test vor: Ein Computer und ein Mensch sitzen in getrennten Räumen. Beide sind über Bildschirm und Tastatur – 1950 war es noch ein Fernschreiber – mit einem weiteren Menschen verbunden, dem Fragesteller. Der darf Computer und Mensch schriftlich beliebige Fragen schicken. Er muss Fragen wählen, die ihm Informationen darüber geben, welcher der beiden der Mensch ist. Gelingt es ihm nicht, Mensch und Computer zu unterscheiden, dann, so Turing, solle man den Computer als intelligent einstufen.

 

Diese Definition ist trickreich und sagt sehr viel über Alan Turings Denken. Er liefert keine abstrakte Definition der Intelligenz. Er sagt auch nicht, Intelligenz sei das, was den Menschen auszeichne, obwohl diese Aussage in seiner Definition steckt. Turing gibt vielmehr ein Verfahren an, ein Rezept oder, in der Sprache der Informatik, einen Algorithmus, womit herausgefunden werden kann, was Intelligenz ist.

Dieses Vorgehen ist typisch für Turing und zieht sich durch sein Werk. Lange bevor es erste Computer gab, beschäftigte er sich damit, wie man Berechnungen in maschinengerechte Schritte zerlegen könnte. Er dachte darüber nach, wie allgemeine Berechnungen durch eine Maschine ausgeführt werden könnten und wo die Grenzen der Berechenbarkeit liegen. Er ist der Erfinder einer abstrakten, universellen Rechenmaschine, die Turing-Maschine heißt. Nach diesem Konzept und zusätzlich nach Ideen von John von Neumann sind bis heute alle Computer gebaut.

Alan Turing, der Mathematiker

Turing war Mathematiker. Schon als Kind hat er sich dafür interessiert, und er studierte das Fach im englischen Cambridge. Der Anfang seines heutigen Ruhms ist höchst abstrakt – und enthält doch bereits die Grundidee zum Aufbau eines Computers. 1936, noch vor seinem 24. Geburtstag, beantwortete er in einer Veröffentlichung eine Frage, die damals die Mathematiker umtrieb: Gibt es ein Verfahren, mit dem sich die Wahrheit jeder logischen Aussage in einer endlichen Anzahl von Schritten beweisen lässt? Große Mathematiker wie David Hilbert und Kurt Gödel hatten sich damit beschäftigt.

Turing setzte neu an und klärte erst einmal, was er unter einem „Verfahren“ verstand. Er stellte sich einen Menschen vor, der nur Bleistift und Papier zur Verfügung hatte und der nach strikten Instruktionen in einem begrenzten Alphabet Zeichen auf einen beliebig langen Papierstreifen schreiben durfte. Dies war die Idee eines Computers, dessen Prozessor in kleinen Schritten mit der Manipulation einer begrenzten Zahl von Symbolen Berechnungen vornimmt, indem er Symbole verschiebt, kombiniert oder löscht. Turing zeigte, dass sein Computer, bestehend aus einem stumpfsinnigen, aber gehorsamen Menschen mit Papier und Bleistift, alles berechnen konnte, was grundsätzlich berechenbar war. Es war ein universeller Computer. Dieser Computer konnte sogar Symbole, die er von seinem Papier las, wiederum als Anweisungen verstehen, etwas zu tun. Das ist das Prinzip der Software: Ein Computerprogramm besteht aus Abfolgen von Codes, die aus dem Speicher gelesen und ausgeführt werden.

Turings Antwort auf die Frage der Mathematiker war ein Nein. Aber er hatte zugleich eine Antwort darauf gegeben, wie ein Computer aufgebaut sein könnte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er in Manchester einen solchen Computer mit bauen, den Mark I.

Turing entschlüsselt Funksprüche

Vorher aber nahm die Politik den als genial bekannt gewordenen Mathematiker in Anspruch. Bei Kriegsausbruch internierte ihn sein Heimatland auf dem Landgut Bletchley Park, nordwestlich von London. Die Aufgabe der dort angesiedelten „Code- und Chiffrenschule“ der britischen Regierung war es, verschlüsselte Nachrichten der Deutschen zu decodieren. Das besondere Interesse galt der Enigma (altgriechisch für Rätsel, Geheimnis), einer Verschlüsselungsmaschine der deutschen Wehrmacht. Einige Exemplare waren den Briten in die Hände gefallen, doch sie fanden den Schlüssel zum Code nicht. Dem Team, zu dem auch Turing gehörte, gelang die Entschlüsselung des Nachrichtenverkehrs der Deutschen. Dabei entwickelten und bauten sie einen Vorläufer der heutigen Computer, den Colossus. Die Maschine machte ihrem Namen alle Ehre: In einem kleiderschrankgroßen Kasten verbrauchten erst 1500 und in einer späteren Version 2500 Elektronenröhren 4500 Watt elektrische Leistung.

Nach dem Krieg wurde aus Turings abstrakten Ideen der reale Computer von heute. Er selbst suchte weiterhin nach Antworten auf die bis heute umstrittene Frage, ob die Welt berechenbarer Symbole die ganze Welt ist. Er befasste sich mit Quantentheorie und machte Ansätze, biologische und physikalische Systeme zu simulieren, musste aber offen lassen, ob das menschliche Gehirn sich je in einem Computer simulieren lassen werde.

Auf seinen Turing-Test, so schreibt Robert French von der Universität von Dijon im Wissenschaftsmagazin „Science“, hätten die Forscher der Künstlichen Intelligenz in den neunziger Jahren den Abgesang angestimmt. Denn ihnen wurde klar, dass menschliches Erkenntnisvermögen nicht nur auf bewusst Erlerntes, sondern auch auf unbewusste Prozesse aufbaut, auf Erfahrungen aus der Interaktion mit der Umwelt, Erkenntniswegen also, die einem „körperlosen“ Computer bis heute verschlossen sind. Doch French ist nicht sicher, dass das so bleiben wird. Die Fähigkeit moderner Computer, große Datenmengen effizient auszuwerten, also auch alltäglich über Sprache und Video Erlebtes und Beobachtetes, mache enorme Fortschritte. Moderne Computer, so French, könnten sich bereits selbst beim Bearbeiten von Daten überwachen. Das, meint er, sei schon so etwas wie ein Nachdenken über sich selbst, also eine sehr menschliche Fähigkeit. Turings Frage sei deshalb noch offen: Ist im Computer simulierte Intelligenz etwas grundsätzlich anderes als Intelligenz?

Porträt: Alan Turin, das geheime Genie

In diesen Tagen wäre der Mathematiker Alan Turing 100 Jahre alt geworden. Obwohl er als Urvater der Informatik angesehen wird, ist sein Name vielen nicht sofort ein Begriff. Das könnte zum einen daran liegen, das Turing wenig publiziert hat – und das wenige dürfte den meisten unverständlich sein. Zum anderen hat er einen seiner wichtigsten Aufträge mit 27 Jahren in geheimer Mission erledigt. Während des Zweiten Weltkrieges entschlüsselte Turing im Auftrag der britischen Regierung die Funksprüche der Deutschen. Ein Kriegsheld wurde er aber nicht; die Arbeit war geheim.

Zu viel Wirbel um seine Person hätte ihm, der Maschinen stets mehr traute als Menschen, auch kaum gefallen. Seine Biografen zeichnen das Bild eines scheuen, streng gescheitelten Exzentrikers, der Nägel kaute, auf Reisen gerne mal seine Koffer verlor und unter seinem Mantel lieber Pyjamas statt Anzüge trug. Da er unter Heuschnupfen litt, soll er im Frühjahr auch am liebsten mit Gasmaske auf sein Fahrrad gestiegen sein, um der leidigen Pollenattacke zu entgehen.

In der Welt der Gedanken bewegte sich der brillante Schachspieler müheloser. Nach dem Krieg schuf er am britischen National Physical Laboratory nicht nur die theoretische Grundlage für moderne Computer, er entwarf auch einen Röhrenrechner mit dem ersten schnellen Speicher. Spezialisiert hatte er sich auch auf Morphogenese: Turing versuchte anhand der Mathematik zu erklären, wie Muster in der Natur entstehen, beispielsweise die Flecken im Leopardenfell.

Wegen Homosexualität verurteilt

Viel Zeit blieb dem Denker nicht, seine Forschung voranzutreiben. Nach einem Einbruch in sein Haus wurde seine Homosexualität bekannt. Wegen „schwerer Unzucht“ wurde Turing vor Gericht gestellt und verurteilt. Der sensible Forscher musste sich entscheiden: Entweder er saß seine Strafe im Gefängnis ab – oder er unterzog sich einer einjährigen Hormonbehandlung, die seine Neigung unterbinden sollte. Turing, der gestählte Marathonläufer, wählte die Hormonbehandlung und litt unsäglich, als sich sein Körper veränderte.

1954 nahm er sich mit 41 Jahren das Leben. Neben seiner Leiche fand man einen Apfel, den er vermutlich mit Zyankali vergiftet hatte. Bis heute wird spekuliert, ob sich Turing dabei von seinem Lieblingsfilm, Disneys „Schneewittchen und die sieben Zwerge“, inspirieren ließ.

Sein Leben bietet jedenfalls genug Stoff für große Dramen. Filme und Biografien gibt es bereits; auch in Liedern wird auf Turing Bezug genommen. 2009 wurde dem Mathematiker schließlich eine späte Ehre zuteil, als ihn der britische Premierminister Gordon Brown mit den Worten bedachte: „Es tut uns leid. Du hattest so viel Besseres verdient.“ Der Dank, der ihm gebühre, mache seine unmenschliche Behandlung umso schrecklicher.

Die Filmgesellschaft Warner Bros. hat sich bereits die Rechte an „The Imitation Game“, einer Adaption der Biografie „Alan Turing: Enigma“ gesichert. Wann das Leben des traurigen Genies ins Kino kommt, ist noch unklar. Ob Turing das Scheinwerferlicht gefallen hätte? Vermutlich nicht.