Leonbergs Kläranlage wird zum Frühwarnsystem für Corona. Inzidenztrends einer Region lassen sich vor der medizinischen Diagnostik voraussagen.

Leonberg - Das Coronavirus lässt sich im Abwasser nachweisen – und zwar schon rund neun Tage bevor die Daten aus den individuellen Tests vorliegen. Deshalb führt das Technologiezentrum Wasser (TZW) mit Sitz in Karlsruhe in der Kläranlage in Leonberg Analysen im Auftrag des Landratsamtes Böblingen durch. -

 

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Die Ergebnisse sind verblüffend und könnten politische Entscheidungen künftig beeinflussen. Wer mit dem Coronavirus infiziert ist, scheidet beim Stuhlgang winzige Teile dessen Erbguts aus. Sucht man im Abwasser danach, können Wissenschaftler feststellen, ob das Virus in dieser Region vorkommt und wie weit es sich verbreitet hat.

„Die Kläranlage Leonberg nutzen wir für diese Untersuchungen bereits seit November 2020. Denn die Fallzahlen waren zu Beginn der Pandemie besonders hoch. Deshalb haben wir in Absprache mit dem Landratsamt und der Stadt Leonberg diese Kommune mit rund 50 000 Einwohnern ausgewählt“, erklärt der Chef der Untersuchungen, Andreas Tiehm. Er ist Leiter der Abteilung Wassermikrobiologie am TZW.

Hohe Fallzahlen zu Beginn der Pandemie

Vor Kurzem wurden die aktuellen Ergebnisse vorgestellt und mit Befunden anderer Regionen verglichen. Das Fazit: Analysen über einen Zeitraum von etwa eineinhalb Jahren belegen, dass durch die Untersuchungen im Abwasser ein Auf- oder Abwärtstrend der Inzidenzen in einer bestimmten Gegend rund neun Tage vor der medizinischen Diagnostik möglich ist.

„Wir haben die Fallzahlen der nachgewiesenen Infektionen mittels Antigen- und PCR-Test mit der Anzahl des Viren-Erbguts im Abwasser in einem Diagramm eingetragen“, erläutert Tiehm. Die Abwasser-Kurve verlaufe sehr ähnlich wie die Kurve der medizinischen Diagnostik – mit einem entscheidenden Unterschied: Die Abwasser-Kurve liegt rund neun Tage vor der Kurve des Robert-Koch-Instituts, was auch ein Abgleich mit den ermittelten Daten für das Gesundheitsamt des Landkreises Böblingen belegt.

Radius wird eingegrenzt

„Wo genau diese Infizierten leben, können wir nicht feststellen, wenn wir die Proben im Klärwerk entnehmen. Dort läuft das Abwasser schließlich zusammen“, sagt der Projektleiter. Andere Forschungsgruppen gehen aber schon weiter. Sobald sie feststellen, dass die Kurve ansteigt, verkleinern sie den Radius, um die Suche einzuschränken, indem sie Proben an unterschiedlichen Kanälen entnehmen, die zum Klärwerk hinführen. Der Radius wird eingegrenzt. Das kann so weit fortgeführt werden, bis der mögliche Kreis der Infizierten auf einen Wohnblock oder auch ein Unternehmen reduziert wird.

„Es gibt mittlerweile große Unternehmen, die die Tests an ihrem Kanal in Auftrag geben. Wenn dort die Anzahl der speziellen Nukleinsäuren des Coronavirus steigen, führt das Unternehmen anschließend Tests durch, um die infizierte Person zu finden – bevor andere unwissentlich angesteckt werden können“, erklärt Tiehm.

Flächendeckende Tests möglich?

Flächendeckend seien solche engmaschigen Tests nur schwer denkbar. Eigentlich soll das Monitoring des Technologiezentrums Wasser in Karlsruhe sowieso „nur“ eine Art Frühwarnsystem für eine bestimmte Region sein. „Wir können mit hoher Wahrscheinlichkeit rund neun Tage im Voraus vorhersagen, wie sich die Infektionszahlen etwa in Leonberg entwickeln. Gemeinsam mit anderen Indikatoren können unsere Auswertungen in die Bewertung der Gesamtsituation mit einfließen“, sagt Tiehm.

Die Tests im Abwasser könnten auch Licht in die Dunkelziffer bringen. Da viele Menschen mit einem asymptomatischen Verlauf gar nicht wissen, dass sie das Coronavirus in sich tragen, fliegen sie in den Fallzahlen und Inzidenzen häufig unter dem Radar.

Wichtiger Indikator für die Zukunft?

Da aber jeder Infizierte oder jede Infizierte, egal ob mit oder ohne Symptome, das Virus ausscheiden, laufen sie bei den Auswertungen der Forscher am Technologiezentrum Wasser in die Statistik mit ein. „Medizinische Diagnostik und Abwasserproben lassen sich zwar nicht direkt miteinander vergleichen. Aber die Differenz lässt zumindest erahnen, wie viele Infektionen unerkannt bleiben“, sagt Tiehm.

„Hoffentlich werden die Tests in unserer Kläranlage fortgeführt“, sagt Leonbergs Oberbürgermeister Martin Georg Cohn (SPD). Die Untersuchungen könnten – gemeinsam mit anderen Informationen – ein wichtiger Indikator für künftige Entscheidungen sein. „Daher stellen wir die Anlage weiterhin für diese wichtigen Tests zur Verfügung“, sagt der OB.

Die Suche nach dem Corona-Erbgut im Abwasser

Wie funktioniert das?
Jede infizierte Person scheidet beim Stuhlgang Coronaviren aus. Die Viren selbst überleben im Wasser nur sehr kurz. Aber ihr Erbgut bleibt erhalten. Das für die Forscher des Technologiezentrums Wasser (TZW) in Karlsruhe relevante Teilchen heißt Nukleinsäure. Und nach diesen Winzlingen suchen die Wissenschaftler, wenn sie Proben im Leonberger Klärwerk untersuchen. Mindestens zwei Proben pro Woche á 40 Milliliter werden benötigt, um ein gesichertes Ergebnis darzustellen. Je mehr diese Art der Nukleinsäuren vorkommt, desto mehr Infizierte gibt es im Einzugsgebiet der Kläranlage.

Wie geht es weiter?
 In Leonberg sollen die Untersuchungen fortgeführt werden. Zusätzliche Fördermittel wurden bereits vom TZW beantragt und eine Fortführung mit eigenen Mitteln von Seiten des Böblinger Landratsamtes in Aussicht gestellt. Der Böblinger Umweltdezernent Martin Wuttke bewertet das Projekt ebenfalls sehr positiv und will die Fortführung ebenfalls forcieren.