Die erste Premiere des Stuttgarter Balletts hat im Zeichen des Ballettwunder-Vaters gestanden: In „Cranko pur“ sind selten gezeigte Choreografien John Crankos erstmals gemeinsam zu sehen.

Stuttgart - Es ist, als ob man das Etui einer Schmuckschatulle öffnete und funkelnde Preziosen auf Samt entdeckt! Die sechs Frauen in Schwarz und zwei Männer in Weiß, die sich auf der Bühne des Stuttgarter Opernhauses vor tiefrotem Hintergrund aufreihen, erinnern an Perlen einer kostbaren Kette. Zu herrschaftlichen Geigen vollführen sie ebensolche Bewegungen. Die Arme bilden elegante Ports de Bras, die Tanzenden schieben sich in- und auseinander im Gleichklang, formieren eine Polonaise, bei der sich die letzte Dame verschmitzt vom Vordermann ziehen lässt. Jeder und jede schlägt mit dem Instrument Körper exakt die Nuancen der Musik an, lächelnd, als ob es nichts Leichteres und Beschwingteres gäbe. Die geometrisch strukturierte Choreografie, die John Cranko 1963 zu Antonio Vivaldis „L’Estro Armonico“ schuf, ist komplex. Schritte, Sprünge und Hebungen, Gruppenarrangements erfordern höchste Präzision, die Linearität und Klarheit verzeiht keine Fehler.

 

Das Stück beeindruckte Reid Anderson, als er 1969 von der Royal Ballett School nach Stuttgart zum Vortanzen kam und die Proben zu „L’Estro Armonico“ sah. Nun setzte Anderson in seiner letzten Spielzeit als Ballettintendant diese „Harmonische Eingebung“ an den Anfang der ersten Premiere in dieser Spielzeit. Im Ballettabend „Cranko pur“ verbindet er drei Stücke des Vaters des Stuttgarter Ballettwunders, die selten und noch nie gemeinsam auf der Bühne waren: Auf „L’Estro Armonico“ folgten „Brouillards“ und „Jeu de Cartes“.

Die Werke aus den Sechziger und Siebziger Jahren tanzte Anderson einst selbst. Und sie zeigen die ganze Bandbreite von Crankos Schaffen. Der Südafrikaner, der am 15. August seinen neunzigsten Geburtstag gefeiert hätte, gilt als Erneuerer der Handlungsballette. Doch er konnte nicht nur dramatisch und humorvoll erzählen. Auch das Abstrakte, rein Tänzerische gehörte zu seinem Spektrum. Bei „Cranko pur“ – ein treffender Titel – wird anschaulich, wie vielfältig und innovativ seine Bewegungssprache nicht nur zu seiner Zeit war, sondern heute immer noch ist.

Körper, die wie Skulpturen sind

Zwar steht „L’Estro Armonico“ – die Soli darin wurden lebendig interpretiert von der Violinistin Elena Graf, dem Flötisten Andreas Noack und dem Oboisten Ivan Dancko – in der neoklassischen Tradition eines George Balanchine. Die Körper sind wie Skulpturen, jede Figur signalisiert Haltung. Und dennoch bricht Cranko, der hier seine große Musikalität beweist, aus dem neoklassischen Korsett aus. Es sind kleine Details, aber auch große Gesten, die zeitlos und gegenwärtig anmuten, ob nun David Moore, Martí Fernández Paixà einen raffinierten Reigen geben oder Moore sechs aufgereihte Paare mit einem Handwischen auseinanderdividiert und zum Posieren bringt.

Immer dabei: Crankos Humor, der von subtilen Andeutungen über überquellende Fröhlichkeit bis hin zu bittersüßer Ironie mit doppeltem Boden reicht. Das gilt auch für Claude Debussys „Brouillards“. Das Klaviervorspiel aus der ersten Prélude-Sammlung des impressionistischen Komponisten – der Franzose verwandelt seine Eindrücke von „Nebel“ in Klangereignisse, feinnervig gespielt von Alexander Reitenbach – nimmt Cranko als Inspiration für zehn choreografische Skizzen. Die Szenenfolge indes mündet in keine chronologische Handlung. Vielmehr werden Impressionen von Motiven des Menschseins getanzt, darunter Melancholie, Freude, Freundschaft, Abschied, Einsamkeit oder Liebe. Die sind mal mitreißend, mal komisch, mal poetisch, immer berührend. Dazu gehört etwa die Szene in „Des pas sur la neige“, in der Jason Reilly einem Paar auf Schritt und Tritt folgt.

Köstlich wiederum wie Rocio Aleman mit drei Männern in „La Puerta del Vino“ schäkert oder Louis Stiens als britischer S. Pickwick Esquire mit Schirm, Charme und Melone über die Bühne stolziert. Friedemann Vogel in „Bruyères“ versucht indes mit höchsten Sprüngen die sich auf einer Bank langweilende Alicia Amatriain zu beeindrucken. Erfolglos: Sie zieht von dannen. Die Miniaturen enden, wie sie beginnen, im Kreislauf des Lebens. Das Ensemble kommt Arm in Arm sich zur Spirale wickelnd auf die Bühne, wankt, purzelt übereinander, kauert im Kreis, aus dem sich wie eine Göttin Alicia Amatriain beschwörend gen Himmel streckt, um dann in sich zusammenzufallen. Sie wird von zwei Männern hinausgetragen, nachdem sich einer nach der anderen weggedreht hat.

Nicht nur „Brouillards“ verdeutlicht, dass Cranko tanzen nicht zuletzt auch bedeutet, Cranko zu schauspielern, sich bei aller Technik in seine Ideen fallen zu lassen. Das gilt insbesondere für „Jeu de Cartes“, dem Kartenspiel. Das letzte Stück des Abends zu Igor Strawinskys gleichnamiger Komposition dirigierte Aivo Välja höchst dynamisch. Die Hauptrolle in der Pokerpartie, bei dem jeweils nach dem Kartenmischen drei Möglichkeiten des Spiels parodistisch durchdekliniert werden, hat der Joker.

Egon Madsen, der Ur-Joker

Diesen Part des Hansdampfs in allen Gassen, der sich in jede Karte verwandeln kann, hatte Cranko 1965 für Egon Madsen kreiert. Die Figur mit dem roten Karottenkopf und dem rosa Ganzkörperanzug übersät mit Herz, Pik, Kreuz und Karo, der den Kartenstapel aufmischt, sollte denn auch zur Paraderolle des Dänen werden.

Adhonay Soares da Silva tanzt den Joker auf eigene, mitreißende Art, weicher, ebenso frech, hoch springend, nahbar. Wunderbar, wie er zunächst die Siebener- und Zehner-Jungs aufwertet und die Trübsal blasende Herzkönigin wegschickt. Oder sich als Pik-Königin in die arrogante Pik-Reihe aus Zehn, Bube, König, As einreiht und zum „Royal Flush“ erhöht, so die quirlige Karo zwei überflüssig macht, schließlich alle von der Bühne kickt.

Das gefiel nicht nur dem Publikum – nach allen Stücken waren Bravo-Rufe zu hören –, sondern auch Egon Madsen. Der Ur-Joker kam zum Abschlussapplaus auf die Bühne und gratulierte Soares da Silva. Die Kompanie hat in „Cranko Pur“ eine großartige Leistung geboten, gleichermaßen stark in Tanz und Ausdruck. Das macht Lust auf mehr Stuttgarter Ballett in der noch jungen Saison – auch in Choreografien von Crankos Nachfolgern.