Von Cranko bis Goecke Ballett und Urheberrecht – wie Tanzschaffende ihre Kunst teilen

Reid Andersons Wissen ist für die Einstudierung der großen Rollen in John Crankos Ballettstücken in Stuttgart sehr gefragt – auch über seine Zeit als Intendant hinaus. Foto: Roman Novitzky

Kann man mit der Vermarktung von Ballettrechten reich werden? Tanzstücke einzustudieren macht viel Arbeit, wie Beispiele von Cranko bis Scholz zeigen.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Während ein Theaterstück seinen Akteuren bei der Umsetzung viel Bewegungsfreiheit lässt, gibt eine Choreografie sehr präzise Schritte vor. Tanzschaffende können und wollen sich deshalb bei der Einstudierung eines Balletts nicht allein auf gefilmte Dokumentationen oder schriftliche Notationssysteme verlassen; und in der Regel dürfen sie es auch nicht.

 

Choreografen und Choreografinnen geben nämlich klare Bedingungen vor, die neben dem Urheberrecht bei der Übernahme ihrer Werke einzuhalten sind. Dazu gehört zum Beispiel die Klärung der Frage, ob eine Kompanie überhaupt in der Lage ist, ein Stück in der geforderten Qualität zu tanzen. „Es hat zwölf Jahre gedauert, bis ich ein Ballett von Jerome Robbins bekommen habe“, schilderte der ehemalige Stuttgarter Intendant Reid Anderson einmal derartige Bemühungen.

Goeckes Ballette sind gefragt

Ist das Werk eines Künstlers gefragt wie zum Beispiel das des ehemaligen Stuttgarter Hauschoreografen Marco Goecke, bringt das einiges an Arbeit mit sich. Bern, Augsburg, Beer Sheva, Riga, Vancouver, Saarbrücken, Sydney: Seine Agentin Nadja Kadel zählt die Bühnen auf, an denen gerade Einstudierungen laufen. Als Ballettdirektor in Hannover kann Marco Goecke die nicht selbst stemmen; er klärt die Frage der Besetzung, sorgt am Ende für den Feinschliff.

„Die Einstudierung selbst übernehmen fünf bis sechs Ballettmeister, die freischaffend sind. Sie haben als Tänzer lange mit Marco Goecke zusammengearbeitet, und wir können ihnen absolut vertrauen“, erklärt Nadja Kadel. Die ehemalige Stuttgarter Tänzerin Ralitza Malehounova ist eine davon, sie hat viele von Goeckes Choreografien am Scapino Ballet in Rotterdam getanzt und später als Ballettmeisterin beim Nederlands Dans Theater neue Kreationen Goeckes betreut. Diese Woche fliegt sie für ihn nach Sydney.

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Es ist in der Ballettwelt üblich, dass Einstudierungen von Tänzern übernommen werden, die in die Entstehung des Stücks involviert waren oder die eng mit seinem Choreografen oder seiner Choreografin zusammengearbeitet haben. So profitiert das Stuttgarter Ballett davon, dass Personen, die seinen Gründer John Cranko noch im Ballettsaal erlebt haben, ihr Wissen teilen – so wie es etwa der ehemalige Intendant Reid Anderson nach wie vor vertraglich geregelt tut und auch getan hat, als es in einer „Onegin“-Probe zum Streit mit Musikdirektor Mikhail Agrest kam.

Nadja Kadel arbeitet mit den Kompanien, die Werke anfragen, oft seit vielen Jahren zusammen, Absagen versucht sie zu vermeiden. „Es ist doch schön, wenn eine Kompanie ein Werk Marco Goeckes tanzen will“, sagt seine Agentin. Im Dialog versucht sie für die Rahmenbedingungen des jeweiligen Ensembles das passende Stück zu finden, schließlich muss am Ende das Niveau stimmen. Aufzeichnungen von Aufführungen dienen der Qualitätskontrolle, bei Wiederaufnahmen und Umbesetzungen ist in der Regel erneut jemand aus Goeckes Team vor Ort.

Die Rechte gehen auf Erben über

„Das ist extrem viel Aufwand“, fasst Nadja Kadel diese Arbeit zusammen, die sie auch für das Werk von Uwe Scholz übernommen hat. Nach dem frühen Tod des Leipziger Ballettchefs hat dessen Bruder sie damit beauftragt. Heute studiert eine Handvoll von Scholz’ Solisten, unter ihnen der ehemalige Leipziger Startänzer Giovanni Di Palma, seine Stücke weltweit ein – in Tokio etwa gemeinsam mit der einstigen Stuttgarter Tänzerin und Scholz-Muse Kiyoko Kimura. Finanziell, sagt Nadja Kadel, halten sich Arbeitsaufwand und Ertrag die Waage.

Ist ein Choreograf tot, gehen die Rechte auf seine Erben über. Diese haben zwei Möglichkeiten: Sie packen alles weg, weil ihnen der Aufwand zu groß ist. Dann gerät ein Künstler in Vergessenheit. Oder sie versuchen, das Werk lebendig zu halten, indem sie Einstudierungen befördern.

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Im Idealfall, siehe John Cranko, ist damit auch Geld zu verdienen. Insofern hat der Choreograf alles richtig gemacht. Seine Werke sind heute nicht nur beim Stuttgarter Ballett, das alle Rechte selbst besitzt, sondern auf vielen Bühnen präsent.

Schon zu Lebzeiten hatte sich John Cranko Gedanken um seinen Nachlass gemacht und diesen bei seinem Assistenten Dieter Gräfe in den besten Händen gesehen. Der Erbe verwaltet seit Crankos frühem Tod 1973 die Rechte, beauftragt für Einstudierungen ein Team von ehemaligen Tänzern, hat ein Mitspracherecht bei den Besetzungen und kontrolliert auch die Qualität der Vorstellungen.

Cranko, Gräfe und Anderson

Ob „Schwanensee“ in Prag oder „Onegin“ in Utah: Reid Anderson ist einer der Cranko-Coachs und als solcher international im Einsatz. Dass er der Lebenspartner von Dieter Gräfe ist, mag die Kommunikationswege verkürzen, erhöht aber den Argwohn von außen. Fest steht jedoch auch: Wer mit Ballettrechten reich werden will, muss viel Zeit und Herzblut investieren.

In Deutschland, wo Verstorbene jährlich geschätzt rund 400 Milliarden Euro an Vermögen hinterlassen, gibt es leichtere Arten, als Erbe Millionär zu werden.

Info – John Crankos Vermächtnis

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Das in Deutschland geltende Urheberrecht umfasst ausdrücklich auch den Tanz; es erlischt 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers – im Fall von John Cranko im Juni 2043. Als Schöpfer eines geistigen Werks steht einem Choreografen eine Tantieme zu, sobald sein Stück aufgeführt oder anderweitig verwertet wird.

Stuttgart
Das Stuttgarter Ballett besitzt die Rechte an den von ihm getanzten Werken John Crankos selbst und kann sie ohne Zustimmung des Cranko-Erben Dieter Gräfe tanzen und besetzen. „Ich könnte wahrscheinlich Einfluss nehmen, wenn das nicht dem Niveau entspricht, das ich erwarte“, sagte Gräfe einmal in einem Interview.

Stiftung
Die neu gegründete John-Cranko-Stiftung wird in der Nachfolge von Gräfe und Reid Anderson die Rechte des Choreografen verwalten. Ihre Einnahmen sollen neben der Pflege von Crankos Balletten der Cranko-Schule zufließen. Ihre späte Gründung erklärte Anderson mit dem zögerlichen Bekenntnis der Politik zum Neubau der Ballettschule.

Streit
Bei einer „Onegin“-Bühnenprobe kam es zwischen Cranko-Coach Anderson und Musikdirektor Mikhail Agrest zu einer Auseinandersetzung über die vom Dirigenten gewählten Tempi und in der Folge zur fristlosen Kündigung Agrests.

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