Cross-Border-Leasing nutzten viele Städte in den 90er-Jahren zur Etatsanierung. Doch bei den umstrittenen Deals mit amerikanischen Banken haben sie sich womöglich auf Finanzwetten eingelassen.

Stuttgart - Julian Roberts sitzt im Besprechungsraum seines holzgetäfelten Büros in der Brienner Straße in München. Wenn der Wirtschaftsanwalt aus dem Fenster schaut, sieht er die Bayerische Landesbank. Hinter der noblen Fassade residieren seine Gegner. Roberts verklagt Landesbanken, nationale und internationale Banken. Seine Mandanten: die Opfer der Finanzindustrie. Meist wurden sie mit Zins-Swapgeschäften und Derivaten über den Tisch gezogen. Auf diese Weise avancierte er zum Experten in Cross-Border-Leasing.

 

In den 90ern haben deutsche Städte und Gemeinden ihre Klärwerke, Straßenbahnen oder Abwassernetze vermietet und damit in die Hände amerikanischer Investoren und Banken gegeben. Diese hatten vorher gemeinsame Trusts gegründet, um an einem US-Steuersparmodell zu verdienen. Der amerikanische Fiskus erlaubte damals die Steuerbegünstigung von ausländischem Vermögen, wenn diese Verträge auf 99 Jahre geschlossen wurden.

Die Verträge sind geheim. Einige dieser Geschäfte sind inzwischen schiefgegangen. Tatsächlich sind die Städte und Gemeinden die Verlierer dieser Deals. „Die Kommunen müssten klagen“, sagt Roberts. „Doch die haben Angst.“ Ein Grund sei die vorsichtige deutsche Mentalität. Roberts kennt sich darin aus: Er ist in Cambridge geboren und in Saarbrücken aufgewachsen, hat über Walter Benjamin promoviert und lehrt Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Roberts ist einer der wenigen unabhängigen Anwälte hierzulande, die einen dieser Geheimverträge gelesen und auch verstanden haben. Er sagt: „Bei Cross-Border-Leasing geht es nicht so sehr ums Vermieten. Es geht um etwas ganz anderes.“

In Heidenheim stimmte die Mehrheit für das Geschäft

Die Geschichte beginnt vor gut elf Jahren in Heidenheim, einer 46 000-Einwohner-Stadt im Osten Baden-Württembergs. An einem trüben Nachmittag Mitte Dezember 2003 blättern sechs Gemeinderäte im kleinen Sitzungssaal des Rathauses in Aktenordnern. Es ist ein schlichter Saal – Betonwände, Tische in Hufeisenform, schwarze Ledersessel. Die Politiker wollen verstehen, was sie im Sommer des Vorjahres beschlossen haben. Seinerzeit hatte der Gemeinderat entschieden, die Abwasseranlage der Stadt in die USA zu verleasen. Parallel stiegen Aalen und Schwäbisch Gmünd mit ihren Kanalnetzen in das Geschäft ein.

In Heidenheim stimmten 17 Gemeinderäte für das Geschäft. 14 von der SPD, den Grünen und der DKP waren dagegen, drei Stadträte enthielten sich. Ahnten sie, dass sie sich auf Geschäfte einlassen sollten, von denen sie nichts verstanden? Befürchteten sie Verstrickungen, aus denen sich die Städte nur schwer wieder herauswinden könnten? Die meisten Lokalpolitiker haben diese Risiken und ungeklärten Fragen damals verdrängt. Heute stellen sie sich umso drängender. Einigen wenigen Bürgern in Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen ließen diese Fragen keine Ruhe. Sie klagten auf Einsicht der Verträge. Jetzt gibt es Anzeichen, dass einige von ihnen Erfolg haben könnten und das Thema Cross-Border-Leasing neu aufgerollt wird.

Viel wertvolle Infrastruktur ist seit Anfang der 90er Jahre auf diese Weise von Europa nach Übersee geflossen. 700 Cross-Border-Leasing-Deals sind europaweit abgewickelt worden – vornehmlich in Großbritannien, den Niederlanden, Schweden, Österreich und der Schweiz. In Deutschland liefen etwa 150 Geschäfte.

Cash für das Kanalnetz

335 Millionen US-Dollar sind die Abwasseranlagen von Aalen, Heidenheim und Schwäbisch Gmünd zusammen wert. Das hat ein Gutachten ergeben, das die Amerikaner angefordert haben. Für das Kanalnetz gab es im Gegenzug Cash – den sogenannten Barwertvorteil, so benannt, weil die Amerikaner ihn gleich auszahlen. 3,4 Millionen Euro für Heidenheim, 3,1 Millionen Euro für Aalen und 3,5 Millionen Euro für Schwäbisch Gmünd. Bar auf die Hand, sozusagen. Dafür müssen die Kommunen das Leasing 20 oder 30 Jahre laufen lassen. Dann haben sie ein Kündigungsrecht. Aber wenn es ganz dumm läuft, gehört die Anlage am Ende dem US-Trust.

Im Jahr 2028 können Aalen, Heidenheim und Schwäbisch Gmünd ihr Abwassernetz zurückverlangen. Es gebe kein Risiko, behaupteten die Anwälte, die Banken und die Berater, die ihnen zur Seite standen. Die meisten sitzen in den USA. Hierzulande arrangierten Debis, die damalige Finanztochter von Daimler-Chrysler, oder eine Tochter der Deutschen Bank oder Töchter von anderen großen Banken die Geschäfte. Die Landesbank Baden-Württemberg und die BayernLB sicherten sie ab. Die Kommunalvertreter glaubten ihnen, auch weil aus dem baden-württembergischen Innenministerium Entwarnung kam. Wenn die Städte und Gemeinden das machen wollten, spreche grundsätzlich nichts dagegen. Die Risikobeurteilung überließ man den Kommunen. Anders in Bayern. Dort warnte die Landesregierung davor.

Im Dezember 2003 halten die Heidenheimer Lokalpolitiker also endlich den Vertrag in den Händen. Kopieren dürfen sie ihn nicht, auch fotografieren ist streng verboten. Nur lesen dürfen sie und sich Notizen machen. Bevor ihnen die Behördenvertreter die Dokumente ausgehändigt haben, haben sie ihnen eingeschärft, dass sie Stillschweigen zu wahren haben. Geschrieben hat den Vertrag die US-Anwaltsfirma Clifford Chance aus New York. Die Dokumente sind in Fachenglisch verfasst, von amerikanischen Wirtschaftsanwälten für amerikanische Wirtschaftsanwälte. Für Laien ist es unverständlich. Die Stadträte verstehen auch nichts. Die meisten geben bald auf, schieben die Ordner zur Seite und plaudern untereinander. Für sie ist die Geschichte hiermit zu Ende.

Gehört der Stuttgarter Kanal den Amerikanern?

Manche Bürger aber geben auch Jahre später nicht auf. Wolfgang Kuebart sitzt in seiner Altbauwohnung, Halbhöhenlage im Stuttgarter Westen, und scrollt mit dem Cursor an seinem Laptop herauf und herunter. Immer wieder. So viele Schreiben hat er verfasst, so viele Dokumente bekommen. Der Physiker hat alles gesammelt. Unterlagen, die beweisen sollen, das etwas nicht richtig gelaufen ist, als die Stadt Stuttgart ihr Kanalnetz den Amerikanern überlassen hat. 2002 war das, als auch Aalen, Heidenheim und Schwäbisch Gmünd ihre Infrastruktur versilbert haben. Kuebart gehört zu den Ingenieuren 22, die gegen Stuttgart 21 vorgehen und die Planung genauestens unter die Lupe nehmen. Für den Tiefbahnhof muss die Deutsche Bahn in das Abwasserkanalnetz eingreifen. Kuebart und seine Kollegen glauben, dass das Abwassernetz heute einem US-Trust gehört. Die Bahn und die Stadt sagen, so stimme das nicht.

Als die Stadt Stuttgart ihre Stadtentwässerung (SES) verleaste, war die SES ein Eigenbetrieb der Kommune. Der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Schuster sagte 2002, es gebe jetzt zwei Eigentümer. Einen in den USA, der die Anlage wirtschaftlich besitze, und die Stadt, der sie tatsächlich gehöre. Schuster war ein großer Fan von solchen Geschäften. Mit wenig Aufwand viel Geld machen.

Das Stuttgarter Kanalnetz ist 450 Millionen Euro wert. 22 Millionen bekam die Stadt ausbezahlt. Das klingt gut, doch war es auch für die Anwälte, Banker, Berater ein gutes Geschäft. Der übliche Anteil für sie betrug vier Prozent am Transaktionsvolumen. Das wären 18 Millionen Euro.

In den 90er Jahren war es schick, öffentliche Güter oder Anlagen zu privatisieren. Die kommunalen Haushalte waren marode. Im Leasing sahen die Städte eine Möglichkeit, ihre Finanzen aufzubessern. Es schien so einfach zu sein. Was war schon dabei, wenn die Straßenbahnen, Müllverbrennungsanlagen, Krankenhäuser, Flughäfen, Bürokomplexe, Kläranlagen und Abwasserkanalnetze für ein paar Jahrzehnte in andere Hände gelangten?

Die Trusts existieren nur auf dem Papier

Die Trusts existieren nur auf dem Papier. Es sind Briefkastenfirmen in Steuerparadiesen wie den US-Bundesstaaten Delaware oder Connecticut. Sie werden betreut von riesigen Anwaltsfirmen wie Clifford Chance. Diese haben die Deals nicht nur eingefädelt, sie beraten und vertreten auch die deutschen Kommunen. Wenn Bürger, Gemeinderäte oder Journalisten zu viel erfahren wollen, wird das mit juristischen Kniffs verhindert.

Hundert Millionen Euro musste die Anlage mindestens wert sein, damit man im Millionenpoker mitspielen konnte. Die Kommunen erhielten für ihr Anlagevermögen bestenfalls Millionenbeträge im unteren zweistelligen Bereich. Sie fanden nichts dabei, dass ihnen in den Verträgen eine Vielzahl von neuen kostspieligen Pflichten auferlegt wurde. Sie wurden nicht misstrauisch, als die Anwälte neue, merkwürdige Regeln auferlegten. Beispielsweise gerät ein Kreditvertrag in Gefahr, wenn einer der beteiligten Banken oder Vertragsparteien in ihrer Kreditwürdigkeit schlechter beurteilt wird. Sinkt das Rating, dann muss die Kommune die Bank oder den Partner ersetzen. Oder sie muss zahlen. Aber das sei ja nur für den Fall der Fälle, beruhigten damals die Berater, Anwälte und Banken. Also praktisch unmöglich.

Die Verträge zum Stuttgarter Kanalnetz wird Wolfgang Kuebart irgendwann in seinen Händen halten. Er glaubt fest daran. Das Recht auf Einsicht hat er für die Ingenieure 22 vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart im November 2014 erstritten. Die Stadt aber lässt sich Zeit. Sie wird vertreten von der US-Kanzlei Allen & Overy, die viel zum Aufbau der Cross-Border-Leasing-Geschäfte beigetragen hat. Sie hat die Anwälte, Banken und Berater gefragt, ob sie der Einsicht zustimmen. Die Antworten würden zurzeit geprüft, heißt es. Dass die US-Vertragspartner ihr Jawort geben werden, ist nicht zu erwarten. Grundsätzlich sieht man bei der Stadt Stuttgart Cross-Border noch immer als gutes Geschäft an, das zumindest beim inzwischen abgewickelten Klärwerks-Deal 11,8 Millionen Euro Gewinn brachte.

Doch es muss nicht glimpflich ausgehen. In Aalen, Heidenheim und Schwäbisch Gmünd ist die Bank ausgefallen, die die Rückzahlung des Kredites absicherte. Das Rating war abgesunken. Bis heute haben die Kommunen keinen Ersatz gefunden. Monatelang haben sie gesucht. Erst in Europa, dann weltweit. 40 Banken haben sie abgeklappert. Sie haben sogar im Internet europaweit eine Anzeige geschaltet.

In Heidenheim hofft man weiter

Kein Kreditinstitut wollte in das Cross-Border-Leasing-Geschäft einsteigen. Die beteiligten Banken hingegen haben mehrfach profitiert. Sie gaben sich Kredite, ohne Zinsen zu verlangen. Die US-Banken aber haben sich aus dem Leasing schon seit Längerem zurückgezogen, auch weil der amerikanische Kongress die Steuergesetze novelliert und diesen Handel nicht mehr gefördert hat. Der Heidenheimer OB Bernhard Ilg sagt, es gebe kein Problem. „Noch ist nicht absehbar, ob die Herabstufung der Bonität der Sicherungsbank Folgewirkungen für den Vertrag hat.“ Man hofft weiter.

Womöglich hat er recht. Denn noch hat kein Anwalt und keine Bank die Vertragsauflösung von den Kommunen gefordert. Täten sie es, würden auf die Städte und Gemeinden hohe Forderungen zukommen. Der ausbezahlte Barwert-Vorteil wäre auch dahin. Im Fall von Heidenheim würden 14,3 Millionen Euro an Kosten anfallen und zudem wäre der Barwertvorteil von 3,4 Millionen Euro futsch, wie die Heidenheimer Zeitung in einer Artikelserie aufgedeckt hat.

Wie so vieles bei diesen Geschäften ist auch das rätselhaft und undurchschaubar. Nur durch die Geheimhaltung ist das überhaupt möglich. Der Wirtschaftsanwalt Julian Roberts würde den Städten Aalen, Heidenheim und Schwäbisch Gmünd und auch Wolfgang Kuebart und den Ingenieuren 22 gerne helfen. Sicherlich auch aus Eigennutz, denn er würde an diesem neuen Geschäftsfeld gewiss gut verdienen.

Julian Roberts meint, den wahren Kern, das Wesen der Cross-Border-Leasing-Geschäfte zu kennen: Seiner Ansicht handelt es sich um einen verschleierten Credit Default Swap, ein Instrumentarium der Investmentbanker. Eine Finanzwette. Die Kreditwürdigkeit ist der Kern. Die Wette geht so: Wetten, dass die Bank oder ein anderer Vertragspartner es nicht schaffen, über die ganze Zeit ihr Rating zu behalten? Da die Laufzeit der Kontrakte über mehrere Jahrzehnte geht, gewinnen die Banken.

Das Wirtschaftsleben ist volatil. Es geht auf und ab. Das Leasing, sagt Roberts, sei nur ein Vorwand gewesen, um die Wette zu ermöglichen und an die werthaltigen Anlagevermögen zu kommen. Deutsche Kommunen und ihre Infrastrukturen können nicht pleitegehen. Was also kann für eine Bank schöner sein, als Anlagen in Milliardenhöhe im Depot zu wissen? Roberts empfiehlt, den Städten auf Auflösung der Verträge zu klagen. Die Chancen stünden nicht schlecht, sagt er, weil die Chancen bei dieser Wette ungleich verteilt gewesen seien.

Lietz will die Verträge sehen

Das Geschäft funktioniert aufgrund der Geheimhaltung und der Angst der Städte, dass sie verklagt werden, wenn sie die Verträge öffentlich machen. Doch diese Angst ist vermutlich unbegründet. Der Journalist Haiko Lietz hat das gezeigt. Bereits 2003 wollte er die Cross-Border-Leasing-Verträge von Recklinghausen und Gelsenkirchen sehen. Er stellte einen Antrag auf Einsichtnahme und bekam nur Absagen. Lietz ließ sich davon nicht entmutigen – auch, weil seit 2002 in Nordrhein-Westfalen das Informationsfreiheitsgesetz gilt. Alle Bürger haben ein Recht auf Einsicht in Verwaltungsakten. Die Behörden müssen gegebenenfalls darlegen, warum sie Dokumente geheim halten wollen. Früher war es andersherum.

Es war ein langer Weg für Lietz, der ihn bis vor das Bundesverwaltungsgericht Leipzig führte. Am 8. Februar 2011 erklärte das oberste deutsche Verwaltungsgericht die Verweigerung der Akteneinsicht bei Cross-Border-Leasing mit Verweis auf das Informationsfreiheitsgesetz für rechtswidrig. Wo immer zwischen Rhein und Ruhr ein Cross-Border-Leasing-Vertrag abgeschlossen worden ist und wo sonst in Deutschland das Informationsfreiheitsgesetz gilt, müssen die Akten herausgeben werden. „Es liegt daher im öffentlichen Interesse, durch Kenntnis des gesamten Vertragswerkes erkennen zu können, ob eine Kommune sich möglichen finanziellen Risiken ausgesetzt sehen könnte“, urteilten die Richter. Lietz hat den Cross-Border-Leasing-Vertrag von Gelsenkirchen inzwischen ausgehändigt bekommen.

In Baden-Württemberg gibt es kein Informationsfreiheitsgesetz, obwohl es die grün-rote Regierung zu Beginn ihrer Koalition versprochen hat. Das Umweltinformationsrecht aber gilt auch hier. Wolfgang Kuebart hat auf dieser Grundlage recht bekommen. Wenn sich die Stadt Stuttgart weiter weigert, ihm die Verträge offenzulegen, will er wieder klagen. In Heidenheim, Aalen und Schwäbisch Gmünd suchen sie derweil weiter eine Bank.