Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Auf Gewissheiten und Eindeutigkeiten verzichten die Filmemacher auch bei der filmisch schwierigen Darstellung der virtuellen Begegnungen im Internet. Das Netzt wird nicht platt verteufelt, stattdessen gelingt es, die Faszination des Mediums in ein treffendes filmästhetisches Arrangement zu übersetzen - was, neben Drehbuch und Figurenzeichnung, die herausragende Qualität des TV-Dramas ausmacht. Die virtuelle Welt ist für die Jugendlichen Heimat, hier treffen sie Freunde, leben ihre Träume, fühlen sich geborgen. Wenn Sara und Benny sich im Chat begegnen, lässt Florian Schwarz sie in einer wohligen Traumwelt schweben. Vor funkelndem Nachthimmel sprechen sie ihren Chat-Dialog von Angesicht zu Angesicht, während die Tastatur verheißungsvoll säuselt, gleichzeitig trennt sie eine Scheibe, auf der ihr Dialog schriftlich erscheint. Und mit Kevin entschwindet Sara in ein virtuelles „Cat-Bistro“, wo sie, mit Katzenmasken verfremdet, Milch aus Strohhalmen trinken. Bonbonbunt, fantastisch, unheimlich. So vermittelt sich die Nähe im Netz und gleichzeitig dessen Anonymität.

 

In der zweiten Hälfte wendet sich das Cyber-Drama zum Thriller. Die Polizei kommt in jenem dramatischen Moment ins Spiel, in der Keller Kevin, nachdem dieser Sara zum Oralsex gezwungen hat, stellt und als Kinderporno-Händler entlarvt. Keller kann seine perfekte Tarnung als helfender Lehrer aufrechterhalten und schafft es, nicht nur Sara, sondern auch die Polizei hinters Licht zu führen.

Die Fassade bleibt clean und hell, dahinter tobt das Chaos

Doch einer der Kommissare (Shenja Lacher) traut ihm nicht und stellt durch einen Spruch, den Keller im Chat mit Sara benutzte, eine Verbindung zu einem bislang nicht aufgeklärten Mädchenmord her. Wie der Ermittler den Lehrer mit seinem Verdacht konfrontiert, ist eine der gespenstischsten, weil grandios komponierten Szenen des Films: Striesows Keller sitzt in weißem Saubermann-Hemd in seinem gläsernen Einfamilienhaus, während der Kommissar ihm auf den Kopf zusagt, dass er ihn für einen pädophilen Mörder hält. Kellers Fassade bleibt hell und clean wie sein Wohnzimmer. Der Zuschauer sieht dennoch all das, was ihm die Kamera nicht zeigt: den zerstörerischen Trieb, das Chaos der multiplen Persönlichkeiten, die Berechnung, die Konzentration, die es erfordert, um all dies in Schach zu halten.

Florian Schwarz hat mit seinem mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Western-Shakespeare-„Tatort: Im Schmerz geboren“ eine Landmarke gesetzt. Mit dem „Weißen Kaninchen“, das fortan in einem Atemzug mit dem herausragenden Cyber-Mobbing-Drama „Homevideo“ genannt werden wird, kommt eine weitere hinzu.