Eine 92 Jahre alte Güterzugdampflok spielt in der Hollywood-Verfilmung des Buches „Die Bücherdiebin“ mit. Für ihre Reise nach Berlin und Görlitz brauchte sie 48 Tonnen Kohle und 300 000 Liter Wasser – eine logistische Meisterleistung.

Münsingen - Sie ist 92 Jahre alt und hat 1540 Pferdestärken unterm Heizkessel. Doch trotz ihres hohen Alters ist die Güterzugdampflok aus Münsingen jetzt zu Hollywood-Filmehren gekommen. Dazu musste die badische G 12 mit der Zugnummer „58 311“ auf abenteuerliche Weise in drei Tagen auf einer Kraft von der Schwäbischen Alb Richtung Berlin schnaufen.

 

Die US-amerikanische Produktionsfirma 20th Century Fox dreht derzeit in Deutschland den Film „The Book Thief“ („Die Bücherdiebin“) nach dem Roman von Markus Zusak. Mit dabei sind unter anderen Geoffrey Rush („Fluch der Karibik“), Emily Watson („Breaking the Waves“) und Heike Makatsch („Hilde“).

Die meisten Szenen des Films, dessen Thema die Kindheit und Jugend des neunjährigen Mädchens Liesel Meminger während der Zeit des Nationalsozialismus ist, werden in den Filmstudios Babelsberg in Potsdam gedreht. Die Außenaufnahmen finden in Görlitz, bei Berlin, in München sowie in Münsingen und Umgebung statt. Eine Hollywood-Produktion auf der Schwäbischen Alb also.

Doch der Reihe nach: Mitte Februar klingelte bei Bernd-Matthias Weckler im Touristbüro der Stadt Münsingen das Telefon. Am anderen Ende ist ein Mitarbeiter der Filmstudios Babelsberg im Auftrag der Produktionsfirma „20th Century Fox“. Er sagt, er suche auf der Alb eine schöne Allee mit knorrigen Bäumen und eine alte Straße, die durch einen Wald führe. Außerdem hält er händeringend Ausschau nach einer alten Dampflok, denn der Kinofilm spielt in den 30er- und 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der Mann vom Film hat ein Riesenglück, denn Weckler ist gleichzeitig Vorsitzender des Vereins Schwäbische Albbahn. Und er hat zurzeit eine badische Dampflok G 12 aus dem Jahr 1921 von den Ulmer Eisenbahnfreunden im Lokschuppen stehen. Schon einen Tag später steht der Filmagent in Münsingen, macht Fotos von dem stählernen Dampfross, und sendet sie per E-Mail sofort nach Los Angeles. Der Produzent ist aus dem Häuschen und brüllt begeistert durchs Telefon: „I want this engine.“ Und die sechs „Donnerbüchsen“, die zweiachsigen Personenwagen der Deutschen Reichsbahn aus den 1930er-Jahren, gleich mit dazu. Nicht nur für Aufnahmen in und um Münsingen, sondern auch noch für Drehs in Görlitz sowie im Jüteborger Ortsteil Werder südlich von Berlin.

Der Produzent muss die Schwaben erst überreden

Mit einer 92 Jahre alten Lok und einigen Waggons nach Berlin fahren? Weckler versucht, dem Mann aus Hollywood zu verklickern, dass das unmöglich sei. Aber der Produzent lässt nicht locker und überredet den Schwaben. Letztlich sagt Weckler zu und bewältigt in kürzester Zeit eine logistische Meisterleistung, die ihresgleichen sucht. Denn die „58 311“ ist nur noch mit 60 Sachen unterwegs und darf nicht auf allen Strecken fahren – was zahlreiche Umwege bedeutet. Außerdem darf sie nur dann über die Schienen schnaufen, wenn keine planmäßigen Züge unterwegs sind.

Summa summarum berechnet Weckler 1800 Schienenkilometer, die insgesamt zurückzulegen sind. Das bedeutet 48 Tonnen Kohle und rund 300 000 Liter Wasser. Die Kohle muss ein Lastwagen samt Greifarm parallel zur Schiene fahren, für das Wasser benötigt das Stahlross einen zweiten Tender. Und da Lokführer und Heizer nur jeweils 2 mal 4,5 Stunden arbeiten dürfen, muss eine zweite Mannschaft in die Waggons, gibt Zugbegleiter Simon Niemann zu bedenken. Macht alles nichts. Die Studiobosse in Los Angeles sichern zu, alle Kosten zu übernehmen. Bevor die Lok den weiten Weg gen Norden antritt, werden in den frühen Morgenstunden erst einmal Lokfahrten im Schandental bei Mehrstetten aus dem Hubschrauber gedreht. 13 Mal muss die „58 311“ hin- und herfahren. Außerdem baut die Filmcrew unter der Regie von Brian Percival in der Allee auf dem Gelände des Haupt- und Landgestüts Marbach und im Nachbarort St. Johann die Kameras auf. Dort kommt ein altes Adler-Automobil zum Einsatz.

Der Wildwuchs an den Gleisen wird für die alte Dame beseitigt

Zwei Tage später macht sich die alte Güterzugdampflok mit ihren 1540 Pferdestärken Richtung Berlin auf. Mit fünf „Donnerbüchsen“, einem Speise- und einem Werkstattwagen im Schlepp kommt sie drei Tage später im Jüteborger Ortsteil Werder an, wo ein alter Bahnhof steht. Die letzten 34 Kilometer Schienen dorthin, auf denen in den vergangenen Jahren nur noch Draisinen verkehren, müssen für den tonnenschweren Stahlkoloss aus Münsingen eigens hergerichtet werden. Außerdem schneidet die Filmcrew den Wildwuchs entlang der Gleise.

Zwei Tage lang wird dort mit der Lok, 60 Komparsen und viel Kunstschnee gedreht, bevor sie weiter ins 200 Kilometer entfernte Görlitz fährt. Der imposante Bahnhof stellt im Film die Station Molching der 1940er-Jahre dar. Bereits am nächsten Tag macht sich die alte Dame in Schwarz von Sachsen aus wieder Richtung Schwäbische Alb auf. Rund 60 Stunden später trifft sie wohlbehalten und ohne ein Wehwehchen in Münsingen ein. „Wie in ihren besten Zeiten“, schwärmt der Zugbegleiter Niemann, der die ganz Fahrt über dabei ist.

Welche Schauspieler im Zug mitgefahren sind, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Kein Sterbenswörtchen dringt nach draußen. Ebenso wenig die Namen derer, die in dem alten Auto in Marbach und in St. Johann gesessen haben. Des Rätsels Lösung gibt es erst am 2. Januar 2014. An diesem Tag läuft voraussichtlich „Die Bücherdiebin“ in den deutschen Kinos an – mit der Münsinger Lok in einer Nebenrolle.