Was ist größer, der Hass oder die Liebe? Bei den Filmfestspielen in Cannes neigt man dem Zweiten zu.

Cannes - Wer spricht noch von „Big Brother“? Die Containershow gehört längst zum TV-Gerümpel, selbst die winselnde, jauchzende Afferei von Formaten wie DSDS dringt unter Hüten hervor, die so alt sind, dass sie wohl bald weggeworfen werden. Anders sieht die Lage in Italien aus, wo „Grande Fratello“ noch immer hohes Anglotzen genießt, derart umkreischt, dass Matteo Garrone daraus eine Satire zu machen beschloss – ein Satirchen, sagen wir besser, mit einem marktschreierisch begabten Fischhändler als irr lachenden Helden.

 

Der Mann kam zur Show, nur um den Kindern seiner neapolitanischen Großfamilie einen Gefallen zu tun. Kaum aber ist die goldene Kitschkutsche eingefahren in Cinecittà, vorbei an fellinesk herausgeputzten Kandidaten, da beginnt der Zauber zu wirken: Dem Fischhändler geraten – für das ahnende Publikum viel zu langsam – Wirklichkeit und TV-Reality zunehmend durcheinander, bis ihn am Ende blanker Wahn umfängt. Für sein brisant realistisches Syndikatsepos „Gomorrha“ hat Garrone vor vier Jahren den Grand Prix in Cannes erhalten – vergangener Ruhm! Nun, da er das Genre gewechselt hat, wirkt er mitsamt der erwartbaren Botschaft, dass Fernsehen blöd macht, auf einmal merkwürdig klein.

Wer hier Größe zeigt

Wesentlich mehr alte Größe zeigt der Rumäne Cristian Mungiu, der 2007 mit einem Abtreibungsdrama Palmengold gewann und nun nach Cannes zurückkehrt mit einer lastenden Klostertragödie, worin wahre Religion und Teufelswerk ununterscheidbar eins werden. Im Zentrum des Geschehens „Hinter den Hügeln“ (dies der Titel) stehen ein bulliger Pope und zwei einander zugetane Nonnen, deren eine aus dem Leben will, verzweifelt, geschüttelt von grässlichen Spasmen, weil die andere Gott stärker liebt als sie. Dem Nonnenrasen setzt der orthodoxe Priester exorzistische Künste entgegen – um Gottes willen wird Liebe zu Tode gebracht.

Tatsächlich scheint eines der meistbehandelten Themen in diesem Festivaljahr die Liebe zu sein. Als Kinderliebe tauchte sie auf in Wes Andersons Eröffnungsfilm, bei Audiard musste sie zwei ramponierte Erwachsene verbandeln, nun sah man sie teuflische Kräfte entfesseln im Kloster. Und dann – kam eine breithintrige Blondine im blauen Badeanzug daher, eine Wiener Matrone, die suchte watschelnd am Palmenstrand die Liebe kenianischer Beach-Boys. Sextourismus gereifter Damen, ein Stoff, aufgegriffen vom Österreicher Ulrich Seidl, der filmisch so unausg’schamt ist wie der Cartoonist Deix beim Spießerunterhosenzeichnen. Indessen muss der Rezensent gestehen, dass ihm das Thema schon vor Jahrzehnten auffiel beim Ophülspreis in Saarbrücken, wo eine deutsche Dokumentarfilmerin ihr karibisches Intimitätenprotokoll ausbreitete, nebst Selbstauskünften in der Diskussion. Das war damals mutig und neu.

Bei Seidl liegt die Sache anders, weil er als Mann vor-schreibt, was den Frauen passieren soll – er nennt diesen Stil semidokumentarisch. Seidl dachte sich eine Frau aus, die ihre Sexsuche erstmals betreibt. Hätte er’s mit einer Kundigen probiert, hätte er keine Spannung im Skript gehabt und wäre um nähere Exploration nicht herumgekommen; so aber konnte er sofort mit einer Setzung aufwarten: mit dem Erlebnis wachsender Enttäuschung. Denn die Boys sind allesamt nur aufs Geld aus – zu dumm aber auch, dass Seidl die Wienerin (Margarethe Tiesel) dermaßen dumm sein lässt, dass sie dies bis zuletzt nicht begreifen mag. So bleibt von dem Investigativprojekt – warum sich genieren, nur weil auch weibliche Reize verflatschen? – nichts übrig als eine Groteske, betitelt „Paradies: Liebe“. Darin der Höhepunkt: ein schlangendünner Schwarzer, nackt tanzend auf einem Bungalowbett für ein paar aufgeilungssüchtige Vetteln. „Abstoßend und erhaben schön, abscheulich und ein Meisterwerk zugleich“, urteilte das US-Filmmagazin „Variety“ und qualifizierte Seidls Opus, das nur die erste Folge eines Paradies-Dreiteilers sein soll, als „Salò mit Sonnenbrand“. Pasolini hätt’s gegraust.

Wenigstens ein Thriller ist dabei

Und wo bleibt der Thrill, das Blutvergießen, hätte man fragen können in Cannes, wäre nicht der US-Australier John Hillcoat im Wettbewerb aufgekreuzt. Drei Brüder, einer vergrunzter als der andere, betreiben zur Prohibitionszeit eine tief im Wald versteckte Whiskeybrennerei – die Gangsterballade, die Hillcoat uns um die Ohren ballert mit seinen Killern in Farmerstrickjacken, erweist sich als Genremix aus Western und beinharter Es-war-einmal-Krudelität. Konfektkino, was sonst?

Anderntags hat uns die Liebe wieder – nein, die entzogene Liebe, der Hass. So herbstlich goldlichtig „Die Jagd“ beginnt, das packende Outcast-Drama des „Festen“-Regisseurs und „Dogma“-Mitbegründers Thomas Vinterberg, so verzweiflungsvoll endet es für den Kindergärtner, von dem eine Kleine behauptet, er habe ihr seinen „Willy“ gezeigt (wirklich, die englischen Untertitel im Festivalkino können’s nicht anders sagen). Was folgt, ist so vorhersehbar wie unausweichlich; im Palaispublikum litten Tausende beinah hörbar mit dem Geächteten (Mads Mikkelsen).

Das Mitleid setzte sich fort, als Michael Haneke „Amour“ präsentierte, eine Chronik letzter Tage, die ein betagtes Ehepaar in seiner weitläufig verwinkelten Pariser Etagenwohnung erlebt. Bis zum grausigen Schluss, den man nicht ausplaudern sollte, wird die Kamera die Gemächer nicht mehr verlassen; starr nimmt sie jede Szene auf, oft in Totalen, distanziert, mit schwarzen Löchern der Leere dazwischen. Ein gebrechlicher alter Mann pflegt sein vom Schlaganfall gelähmtes Weib – mehr passiert nicht. Doch wer es mit ansieht, dem erstickt es das Herz. Ein Hoffnungszeichen wäre aber, wenn Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva für ihre unvergessliche „Performance“ geehrt würden, zumindest sie, die Darsteller, mit Festivalpalmen.