Fünfmal täglich gibt es in der Stuttgarter Innenstadt sehr spezielle Minikonzerte. Das Glockenspielauf dem Rathausturm schickt Volksweisen über den Marktplatz und erinnert charmant daran, wie die Zeit vergeht.
Stuttgart - Die Stadt ist nie still, und manchmal singt sie sogar. „Muss i denn zum Städele hinaus . . .“ zum Beispiel. Oder „Kein schöner Land“. Das klingt sehr munter und geschieht eher tagsüber, während auf dem Stuttgarter Wochenmarkt Obst und Gemüse verkauft werden, Mütter ihre Kinderwagen spazieren schieben und Touristen hier mitten im Zentrum, nach einer Lokalität zum Rasten suchen. Am Abend kann es den Passanten durchaus melancholisch stimmen, wenn er auf dem Heimweg, die große, dunkle Fläche kreuzend, eine leicht verschleppte, etwas altmodische und irgendwie wunderbare Version von „Der Mond ist aufgegangen“ aus den Öffnungen im Rathausturm zu hören bekommt. Man nimmt die voluminösen Klänge mehr zufällig wahr, geht in ihren Schallkreis hinein, verlässt ihn wieder. Die Melodien aber nimmt man mit, sie hallen nach, mitsamt der nicht gesagten Worte.
Eckart Hirschmann weiß, was Glockenspielklänge auslösen können. „Man darf und soll das nicht nur als Bimbam registrieren, man kann zuhören und dabei etwas empfinden“, sagt der pensionierte Betriebswirt. Der 82-Jährige ist wohl einer der begeistertsten Fans dieser riesenhaften Musikinstrumente, von denen 1925 auch in Stuttgart eines angeschafft wurde, für den Turm des 1905 eröffneten, im Stil der flämischen Spätgotik erbauten Rathauses. Weil die Stadt nicht das Geld hatte, eine solche Investition zu tätigen, wurde bei den lokalen Geschäftsleuten nachgefragt. „Und die spendierten das Glockenspiel, um die Leute mit einer Attraktion in die Innenstadt zu locken.“ Fast unvorstellbar in Zeiten, in denen internationale Ketten wie Nespresso und Thomas Szabo in den Traditionshäusern logieren.
Ausflug in eine andere Welt
Hirschmann weiß viele solche Geschichten zu erzählen. Seit 2006 ist der Hobbypianist nicht mehr nur in Esslingen für das dortige Glockenspiel mit 29 Elementen, sondern auch für das 30-teilige Stuttgarter Glockenspiel zuständig. Er hat in luftiger Höhe die 70 Volkslieder auf dem Computer eingespielt, die dort zu hören sind, und ist berechtigterweise ein wenig stolz. Inzwischen begleitet er einmal im Monat mit Franz-Dieter Bretzler vom Hauptamt Besucher in den 60 Meter hohen Turm, lässt sie an seinen Kenntnissen, Anekdoten und Fertigkeiten teilhaben.
Der Ausflug führt in eine andere Welt. Wenn es unten stickig ist, weht oben ein frisches Lüftchen, wenn es Winter wird, muss man schon mal einen Schneesturm aushalten. Allein die Ausblicke über die Dächer in alle vier Himmelsrichtungen, vom Bismarckturm bis zum Frauenkopf, von der Kaltentaler Höhe bis ins Remstal, lohnen den Aufstieg. Bretzler erläutert beim Treppensteigen in bestem Schwäbisch die Besonderheiten des im Krieg teilweise zerstörten und nach dem Krieg nicht unbedingt zum Wohlgefallen der Bevölkerung in nüchternem Stil wiederaufgebauten Verwaltungsgebäudes. Dann steht man ganz oben in dem nach allen Seiten mit enormen Schallöffnungen versehenen Raum, wo sich auf drei Etagen die Glocken wie ein Scherenschnitt vor dem hellem Himmel abzeichnen. „Es war ein Meisterwerk, die Schlagtöne der dreißig Glocken so aufeinander abzustimmen, dass man nicht nur eine Melodie spielen, sondern auch zweistimmig musizieren kann“, erklärt Hirschmann. Im Abstand von Halbtönen sind sie aufeinander abgestimmt, zwölf Töne über eine Oktave gespannt. Das Gesamtgewicht der Glocken beträgt 4640 Kilogramm, die größte wiegt fast eine Tonne. Im Gegensatz zu den „Läuteglocken“, von den es allein im Stadtzentrum mehr als zehn gibt, sind die Glockenspielglocken fest montiert, sie selbst bewegen sich nicht, sondern werden von einem elektromagnetischen Schlagwerk angeschlagen.