Ein Vulkanausbruch im fernen Indonesien führte vor 200 Jahren zu einer Hungersnot im Herzogtum Baden und im Königreich Württemberg. 1816 ging als Jahr ohne Sommer in die Geschichtsbücher ein. Seine Folgen sind bis heute sichtbar.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Eine Flüchtlingskrise hat Europa fest im Griff. Eine riesige Zahl von Wirtschaftsflüchtlingen macht sich auf eine äußerst ungewisse Reise in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die einen wagen die beschwerliche Etappe zu Fuß, andere mit dem Schiff. Auf den Booten brechen Krankheiten aus und fordern viele Opfer. Im Flüchtlingslager von Ismajil an der Donau angekommen, müssen sich die Auswanderer direkt in Quarantäne begeben. Im Lager herrschen erschreckende hygienische Zustände, zahlreiche Epidemien wüten. Ein Teil der Flüchtlinge wird ihr gelobtes Land nie erreichen. Die, die es aber schaffen, schicken denen, die diesen Schritt noch nicht gewagt haben, beinahe enthusiastische Nachrichten aus der neuen Heimat.

 

Was sich bis hierher wie eine Zustandsbeschreibung des heutigen Europa gelesen hat, schildert in Wahrheit die Situation vor genau 200 Jahren. 1816 ging der Flüchtlingsstrom allerdings von West nach Ost, in die entgegengesetzte Richtung der Völkerwanderung von heute. Damals hatte Zentraleuropa mit einer dramatischen Wirtschaftskrise zu kämpfen. Württemberg war das Armenhaus Europas. Kriege und jahrelange Missernten hatten ganze Schichten verarmen lassen.

1816 war das zweitkälteste Jahr seit 1400

Seit 1812 folgte ein trostloser Sommer auf den nächsten. 1816 stellte den negativen Höhepunkt eines der kältesten Jahrzehnte der sogenannten Kleinen Eiszeit dar und ging als Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein. Als „Achtzehnhundertunderfroren“ wurde es hierzulande bezeichnet, im Englischen ist „Eighteen hundred and frozen to death“ bis heute berüchtigt.

1816 war das zweitkälteste Jahr seit 1400. Das Jahr ohne Sommer hatte einen Massenexodus zur Folge, auch und vor allem aus Baden und aus Württemberg. Die traditionellen Migrationspfade verwandelten sich in Fluchtrouten. In den ersten vier Monaten des Jahres 1817 sollen laut dem Historiker Daniel Krämer 18 000 Menschen aus dem Großherzogtum Baden ausgewandert sein – das entspricht etwa einem Fünftel der damaligen Bevölkerung. In Württemberg wurden mehr als 17 000 legale Reisepapiere ausgestellt.

Ein Fünftel der Bevölkerung Badens wanderte aus

Die sogenannte trockene Auswanderung führte die Flüchtlinge nach Russland, wobei diese Route nicht ausschließlich trocken war – einen Teil der Reise mussten die Geflüchteten über die Donau zurücklegen, in gewagten Bootskonstruktionen, den sogenannten Ulmer Schachteln. Die nasse Auswanderung brachte die Flüchtlinge in die Vereinigten Staaten von Amerika. Krämer schreibt, dass die Zahl der Emigranten 1816 alle Erwartungen überstieg und das Gesicht der Vereinigten Staaten erheblich veränderte.

Doch was war geschehen? Wieso wollte die Sonne im Jahr 1816 nicht mehr scheinen?

Am 5. April 1815 hatte der Vulkan Tambora östlich von Java im heutigen Indonesien damit begonnen, Feuer zu speien. Am 10. April hatte die vulkanische Aktivität ihren Höhepunkt erreicht. Allein die Zahlen des Ausbruchs belegen die damalige Dramatik: Die Energie, die der Riese freisetzte, entsprach Schätzungen zufolge 170 000 Hiroshima-Bomben. Der Berg schrumpfte von 4300 auf 2850 Meter.

Die Eruption des Tambora war der größte Vulkanausbruch der letzten Jahrtausende

Die Eruption war nichts weniger als der größte Vulkanausbruch der letzten Jahrtausende. Unfassbare 43 Kilometer ragte die Säule in den Himmel. 150 Kubikkilometer Asche und Gestein wurden in die Stratosphäre geschleudert. Mehr als 100 000 Menschen starben auf den Inseln rund um den Tambora.

Welche Auswirkungen ein Vulkanausbruch auch heute noch haben kann, zeigt sich am Beispiel des Eyjafjallajökull auf Island, der zuletzt im Jahr 2010 aktiv war. Anschließend wurde der Flugverkehr in Nord- und Mitteleuropa für einige Tage eingestellt.

Die Folgen der Tambora-Eruption im Jahr 1815 waren allerdings weitaus dramatischer. Die Menschen in Europa bekamen sie erst ein Jahr später zu spüren. Am schlimmsten betroffen waren die Schweiz und Österreich – sowie Baden und Württemberg. „Am Neujahrstag war es heiß wie im Sommer. Im Mai war es kalt wie sonst im Februar. Die Brunnen sind zugefroren, dass man kein Wasser holen konnte. Im Juni setzte dann ein Regen ein, der nicht enden wollte. Auf den Feldern verfaulte das Korn. Im Juli vernichtete ein Hagel alles, was gewachsen war“, zitiert der Autor Karl Stumpp einen Zeitzeugenbericht.

Die Folgen der Missernte: Getreide war kaum mehr zu bezahlen

Nässe und Kälte das ganze Jahr über hatten eine totale Missernte an Getreide, Wein, Obst und Futter zur Folge. Zwei Drittel des Viehs gingen ein oder mussten wegen Futtermangels notgeschlachtet werden. Getreide war kaum mehr zu bezahlen. Baumrinde, Stroh und Kleie wurden zu Brot verbacken, Gras und Heu gekocht und gegessen. „Die Ärmsten versuchten, sich von Sauerampfer, Moos und Katzenfleisch zu ernähren“, schreibt Hans-Erhard Lessing in seiner Biografie des Erfinders Drais.

Die Getreidepreise waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts das wichtigste Konjunkturbarometer, ähnlich der Aktienkurse heute. Rund die Hälfte des Einkommens musste für Getreide verwendet werden. Das Korn konnte kaum gelagert werden, es verfaulte zu schnell. Die Transportwege waren natürlich ganz andere als heute, auf eine Hungersnot konnte logistisch nicht so schnell mit einem Import von Weizen und anderem reagiert werden: „Getreide, das im August 1816 in Russland gekauft worden war, traf teilweise erst ein Jahr später an seinem Bestimmungsort ein“, schreibt der Historiker Daniel Krämer. Der Rhein fiel wegen der Regenfälle und dem darauf folgenden lang anhaltenden Hochwasser für einige Wochen als zentraler Transportweg aus, er war nicht schiffbar. Auch der Neckar war von Hochwasser betroffen. Mitteleuropa wurde von der Klimakatastrophe von 1816 auch deshalb schwerer getroffen, weil es weit weg von den damaligen Handelszentren an den Küsten lag.

Der Hunger in Württemberg führte zu politischer Instabilität

In Württemberg kam es 1816 wegen der Missernte und der logistischen Probleme zu einer Verteuerung des Weizens um 239 Prozent. Der Hunger führte zu politischer Instabilität: Vereinzelt wurden Mühlen und Bäckereien geplündert. „Die schiere Armut eskalierte vor allem in den ländlichen Gebieten zu einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß“, schreiben die Autoren Karl-Heinz Meier-Braun und Reinhold Weber. Die Unter- und die Mittelschicht konnte sich kaum mehr etwas leisten, die Bauern konnten wegen der Missernte keine Tagelöhner mehr anstellen, Handwerker und andere Gewerbetreibende erhielten kaum mehr Aufträge. „Württemberg war der einzige deutsche Staat, in dem in den Jahren 1816/17 die Mortalität die Natalität überstieg“, schreibt Krämer.

Es kam zum eingangs beschriebenen Massenexodus, zu einer Flüchtlingskrise. Nicht alle schafften es, sich in einem anderen Land eine neue Existenz aufzubauen. Auf das Jahr ohne Sommer folgte 1817 das „Year of the beggars“, das Jahr der Bettler. Der britische Forscher Thomas Stamford Raffles, Gründer der Stadt Singapur, reiste 1817 durch Europa. In den Erinnerungen an seinen Trip heißt es, dass die hartnäckigen Bettler die Bewegungsfreiheit der Reisenden enorm einschränkten.

König Wilhelm versuchte als Reaktion auf 1816, die Wirtschaft zu professionalisieren

Im Jahr 1816 kam kein Mensch auf die Idee, dass ein Vulkanausbruch in 12 000 Kilometer Entfernung das Jahr ohne Sommer ausgelöst haben könnte. Stattdessen suchte man die Gründe in allerlei Übersinnlichem: So wurde zum Beispiel der strafende Gott des Alten Testaments für die extreme Hungersnot verantwortlich gemacht. Zahlreiche Auswanderer aus Württemberg waren Pietisten, die in Russland christliche Siedlungen gründen wollten, um Jesus bei seiner Wiederkunft näher zu sein. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts brachte der amerikanische Atmosphärenphysiker William Jackson Humphreys den Ausbruch des Tambora in Indonesien mit der Klimakatastrophe in Europa in Verbindung.

Bei der Bekämpfung des Hungers markiert das Jahr ohne Sommer einen Wendepunkt in der Geschichte. Die Hungerkrise stellte König Wilhelm I. direkt nach seiner Amtseinführung in Württemberg vor große Herausforderungen. Im Oktober 1816 kam er auf den Thron und leitete sofort Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschaft ein. Um die Bevölkerung schneller mit Getreide zu versorgen, wurde der Import durch Aufhebung der Zölle erleichtert, die Exportzölle wurden dagegen erhöht. Der Historiker Hans Medick spricht hier von einer „moralischen Ökonomie von oben“, die von Wilhelm zusätzlich symbolisch aufgeladen worden sei.

Außerdem professionalisierte Wilhelm als Antwort auf 1816 die Landwirtschaft, indem er eine landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt in Hohenheim gründete. Aus dieser Bildungsanstalt ging schließlich die Universität Hohenheim hervor. In Bad Cannstatt stiftete Wilhelm gemeinsam mit seiner Frau Katharina ein landwirtschaftliches Fest. Dieses Erntedankfest, eine Leistungsschau, in deren Mittelpunkt die neuesten Züchtungen in der Landwirtschaft standen, fand 1818 erstmals statt. Die Veranstaltung lieferte wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der Agrarwirtschaft – und feiert 2018 übrigens ihren 200. Geburtstag. Beim Cannstatter Wasen geht es heute allerdings um andere Höchstleistungen, hauptsächlich in den Disziplinen Biertrinken und Trachtenverkleidung – das wiederum ist eine ganz andere Geschichte.