Bob Dylan wandelt mit seinem Album „Shadows in the Night“ auf Frank Sinatras Spuren. Aus Angriffsfanfaren in Herzensangelegenheiten macht er Kleinodien der Zerbrechlichkeit.

Stuttgart - Als Songwriter ist Bob Dylan unumstritten. Sobald die Leute jedoch versuchen, den Gesang des mittlerweile 73-jährigen Amerikaners zu beschreiben, werden gerne Vergleiche mit rostigen Reißnägeln, staubigen Steinbrüchen und grobkörnigem Sandpapier herangezogen, die alle auf ein bemerkenswertes Maß an Zerstörtheit herauslaufen. Gleichzeitig ist Bob Dylans brüchige Stimme mit all ihren Schrunden eines der emotional dehnbarsten Instrumente der Popmusik.

 

Mit diesem angegriffenen Organ also und aller Zärtlichkeit, die Dylan imstande ist, aus ihm herauszuwringen, wendet er sich in seinem 36. Studioalbum „Shadows in the Night“ zehn Liedern im Geiste des Great American Songbook zu, die alle zwischen den zwanziger und sechziger Jahren geschrieben wurden und noch etwas gemeinsam haben: Frank Sinatra hat sie irgendwann gesungen. Am ersten, „I’m a Fool to want you“, hat Sinatra sogar mitgeschrieben. In seiner eigenen Aufnahme von 1957 musste er erst mal die aufbrausenden Streicher beschwichtigen, ehe er sich anschicken konnte, mit jeder Menge Schmalz in der Stimme um eine aussichtslose Liebe zu kämpfen.

Hadernd, hoffend und beschwörend

Bob Dylan indes kämpft nicht. Eher schlurft er schamanenhaft wohlwollend durch Erinnerungen an längst vergangene Kämpfe und drückt in Liedern, die von entflammten, aber mehr noch von gebrochenen Herzen handeln, hadernd, hoffend und beschwörend seine Sympathie für die Leidenschaft junger Menschen aus. Die Songs hat Bob Dylan – wie immer unter seinem Produzentenpseudonym Jack Frost – höchstselbst für seine Bedürfnisse umarrangiert: Aus streichersatten Angriffsfanfaren sind so spartanisch instrumentierte Kleinodien geworden, die Dylans Tourband sachte ausatmet. Zum Wimmern der Pedal-Steel-Gitarre und zum sämig gestrichenen oder sanft hingetupften Kontrabass singt Dylan so klar und diszipliniert wie seit 25 Jahren nicht mehr, während eine hallverwischte E-Gitarre zarte Traumsplitter neben die schweißgebadeten Aufwachoden des Meisters haucht.

Ach so, ja: der diesmal zum Flüsterstreichler degradierte Schlagzeuger hat meistens Pause, und der Rhythmusgitarrist klingt wie in den Nebenraum einer Kaschemme verbannt. Welch kühner Schachzug: Dylan präsentiert seine großartige Band als in Auflösung befindliche Cowboycombo um drei Uhr morgens. Inniger lässt sich die allen Herzensangelegenheiten innewohnende Zerbrechlichkeit musikalisch kaum darstellen.

Maßstäbe in Sachen Traurigkeit

Der geniale Songwriter hat sich im Verlauf seiner mehr als fünfzig Jahre währenden Karriere immer wieder auch die Lieder anderer Leute vorgenommen. Aber niemals zuvor ist dabei derart originär dylanesk-rätselhafte Musik entstanden wie auf diesem Album. Und kaum je zuvor klang Dylan beim Durchmessen fremder Gefühle so intim wie auf „Shadows in the Night“: Im Song „What’ll I do“ zerrt der Verzicht auf jegliche Studiotricks Dylans schweren Atem auf die CD, in „Why try to change me now“ bettelt der Sänger um Erlösung, und Dylans Version von „Some enchanted Evening“ setzt neue Maßstäbe in Sachen ungeschminkter Traurigkeit.

Das alles hat wenig mit Frank Sinatra zu tun, gar nichts mit dessen größten Hits (die Dylan alle auslässt), dafür aber eine Menge mit Dylans eigener Befindlichkeit. Ob er dieses Album als riskant empfinde, wollte die US-Seniorenzeitschrift „AARP Magazine“, deren nächster Ausgabe 50 000 neue Dylan-CDs beiliegen werden, vom Künstler wissen: „Riskant? Wie wenn man über ein Feld geht, das mit Landminen gespickt ist? Oder wie wenn man in einer Giftgasfabrik arbeitet? Am Plattenmachen ist nichts riskant“, antwortete Dylan, der in den intensivsten Momenten dieses Albums klingt, als husche ein Sinatra-Gespenst durch lange nicht mehr bewohnte Gemäuer und erschrecke mit Wahrhaftigkeit in Moll.

Ein Juwel von einem Album

Bob Dylan macht – mal wieder – genau das, worauf er Lust hat. Dass er gerade jetzt nostalgischen Liebesliedern hingebungsvoll altertümlich anmutende Klanggewänder schneidert, die ebenso konsequent aus der Zeit fallen wie die Lieder selbst, ist aber auch ein Kommentar zum Zustand dieser Welt: Jene unbedingte Form der Liebe, an der sich Dylans Stimme nun wund wetzt, ist unmodern geworden. Ein Grund mehr, sich mit diesem Juwel von einem Album 35 Minuten lang einzusperren.