Rolf Isinger (links) und Dirk Grothe zeigen den ferngesteuerten Kamerawagen, mit dem sie den Kanal unter der Ernsthaldenstraße inspiziert haben.

Vaihingen – Der Schlitten auf Rädern steht bei 46 Metern. Menschen müssten unweigerlich Klaustrophobie bekommen, könnten sie sich in das enge Rohr zwängen, in das das silberne Gefährt mit seinem elektrischen Auge gerade blickt. Mit einem Durchmesser von 25 Zentimeter ist das aber unmöglich. So klein ist der Kanal, den Dirk Grothe gerade inspiziert. Er steht im Nieselregen, vor einem offenen Schachtdeckel an der Ernsthaldenstraße in Vaihingen. Mit einem Lappen umfasst er das gelbe Kabel, das über eine Seilwinde läuft, im Untergrund verschwindet und irgendwo weiter vorne, unter der Fahrbahndecke, in den Kamerawagen mündet und ihm die Steuerimpulse einhaucht. Zur Sicherheit hat er sich noch Handschuhe übergestülpt. „Schließlich arbeiten wir hier mit Abwasser“, sagt er. Wer weiß, in was das Kabel da unten liegt.

 

Die Zeiten, in denen die Männer von der Stadtentwässerung Stuttgart (SES) noch auf allen Vieren durch die größeren Kanäle kriechen mussten und bei den kleineren blind blieben, sind längst vorbei. Dank hochmoderner Technik geht eine Kanalinspektion heute relativ sauber und reibungslos über die Bühne. Zum Einsatz kommen Zwei-Mann-Teams, die mit einem 350 000 Euro teuren Spezialfahrzeug unterwegs sind. Hauptarbeitsgerät ist eine Kamera, die auf einem rund 75 Zentimeter langen, elektrisch betriebenen vierrädrigen Wagen montiert ist. Dieser rollt durch den Kanal und schickt seine Bilder per Datenleitung in Echtzeit auf die Monitore.

Vier Bildschirme am Arbeitsplatz im Spezialwagen

In diesem Fall zu denen vor Rolf Insinger. Vier Bildschirme ziert sein Arbeitsplatz im Innern des Spezialwagens, außerdem eine Tastatur, ein Display und zwei Steuerknüppel, einer links und einer rechts. „Hiermit kann ich die Kamera steuern“, sagt er. Ein Druck in eine Richtung, und der Kopf des Gefährts vollzieht die entsprechende Bewegung. „Und damit fahre ich den Wagen.“

Damit der unterwegs nicht stecken bleibt, sollte der Weg frei von Hindernissen sein. Nicht nur deshalb wird der Kanal vorher durchgespült. Er muss auch sauber sein, damit Risse oder andere Beschädigungen besser erkannt werden können. Für die Spülung ist eine andere Mannschaft mit eigenem Spezialfahrzeug zuständig. Da die Kanäle aus verschiedenen Materialien bestehen und verschiedene Durchmesser haben, gibt es verschiedene Reifen, die auf den rund 30 Kilogramm schweren Kamerawagen montiert werden können.

Im Jahr 1874 hat man in Stuttgart damit begonnen, ein unterirdisches Kanalsystem anzulegen. Mittlerweile hat es eine Länge von 1740 Kilometer. Rund 60 000 Schächte sorgen für Zugang. Die Rohre, das erläutert Robert Hertler, der Leiter Kanalbetrieb bei der SES, sind meistens so alt wie die Häuser, die an der Straße stehen. „Die ältesten sind nicht die schlechtesten“, beschreibt er die Qualität der Rohre. Vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren sei weniger Wert auf die unterirdische Infrastruktur gelegt worden, damals habe der Schwerpunkt vor allem auf dem Wohnungsbau gelegen. Mittlerweile habe man aber wieder erkannt, dass das Abwassernetz einen finanziellen Wert darstelle, der erhalten werden müsse.

Rohre müssen alle zehn Jahre kontrolliert werden

Mindestens alle zehn Jahre muss jedes Rohr kontrolliert werden. Da die SES diese Mammutaufgabe allein nicht bewältigen kann, beauftragt sie auch Fremdfirmen mit den Inspektionen. Zu Sondereinsätzen, also wenn beispielsweise irgendwo ein Rohr aus Versehen angebohrt wird oder sonst etwas passiert, rücken normalerweise nur SES-Mitarbeiter an, da die Schäden genau dokumentiert werden müssen.

Insinger ist unter der Ernsthaldenstraße fündig geworden. Er lässt das Video noch einmal laufen, das er vorhin aufgenommen hat. Auf dem Bildschirm steht die Ziffer 19,30. So viele Meter war der Schlitten gefahren, bis er auf einen Hauszulauf stieß, der doch recht unsachgemäß in den Kanal gestoßen wurde. Die Ränder sind gebrochen, als wäre ein Flaschenhals abgeschlagen worden. Das sieht unschön aus, ist aber nicht weiter schlimm. „Das war vielleicht eine Vier“, sagt Insinger. Was er entdeckt, ordnet er einer Schadensklasse von eins bis fünf zu. Eine Eins muss sofort repariert werden. Eine Fünf wird notiert, um die Stelle bei künftigen Erkundungen im Blick zu haben.