Wenn jede Stunde eine Geschichte erzählt, hat der Tag 24 Geschichten. Eben diese erzählen wir in einer Serie. Von 15 bis 16 Uhr besuchen wir das Wohnzimmer im Nikolaus-Cusanus-Haus, wo Bewohner des Seniorenheims gemeinsam Kaffee trinken und Erinnerungen austauschen.
Birkach - Zwischen Eiskaffee-Schlucken und Berliner-Bissen werden die Erinnerungen wach. Und wie eben ein Eiskaffee auch bittere Noten hat, sind es nicht nur süße Momente, auf die die Damen über das blaugeblümte Hutschenreuther-Service zurückblicken. Bei den insgesamt gut 800 gelebten Jahren, die wochentäglich am Tisch des sogenannten Wohnzimmers im Nikolaus-Cusanus-Haus zusammenkommen, ist das kein Wunder.
Aber bevor bei die Bewohnerinnen die Vergangenheit Revue passieren lassen, gilt es erst einmal im Hier und Jetzt eine Entscheidung zu treffen: „Möchten Sie Eiskaffe, Eisschokolade oder lieber heißen Kaffee?“, fragt Sigrid Klich die Frauen. die sich peu á peu selbstständig, mit Gehhilfe oder am Arm eines Pflegers im Wohnzimmer einfinden. „Heißer Kaffee ist mir vertrauter“, sagt eine, doch den meisten anderen serviert Klich ein Glas kalten Kaffees, komplettiert mit Vanilleeis Sahnehäubchen und Strohhalm. Seit acht Jahren ist Klich im Nikolaus-Cusanus-Haus tätig, seit vier Jahren für die Betreuung im Wohnzimmer. Nachmittags wird dort Kaffee getrunken, immer mit etwas Süßem, dann wird gesungen, gespielt oder gebastelt. Und natürlich geredet: Klich versucht, alle ins Gespräch miteinzubinden. Dabei schafft die fröhliche Rheinländerin es, jede entsprechend ihres Gesundheitszustandes dort abzuholen, wo sie ist. „So gut wie bei der Sigrid ist es nirgends“, sagt Frau Strohbeck-Stolz und befindet den Eiskaffee, der nun vor ihr steht, als wunderschön.
Als der Azubi einen Finger verlor
Wie jede ihrer Tischnachbarinnen hat auch Ruth Strohbeck-Stolz Zeiten erlebt, in denen an solche Köstlichkeiten nicht zu denken war. Strohbeck-Stolz erinnert sich lebhaft daran, wie sie mit „Spächtele“ im Büro Feuer machen musste. Das hatte ihr ihr „lieber, guter Vater“ beigebracht, und ihre Kollegin, die sie nicht leiden konnte, war neidisch. „Ich war beim Bosch und beim Mahle, habe 658 gewerbliche Auszubildende unter mir gehabt. Da war jeden Tag ebbes los“, erzählt die resolute Dame aus Bad Cannstatt. Man sieht sie vor sich, wie sie nach dem Krieg mit anpackte oder als ein Azubi bei einem Arbeitsunfall einen Finger verlor: „Wir haben ihn mit dem Hubschrauber nach Heidelberg gebracht. So ohne Fingerle hätte der Kerle ja kein Werkzeugmacher mehr sein können.“
Die Themen, die zwischen 15 und 16 Uhr während der Kaffeestunde im Wohnzimmer auf den Tisch kommen, sind so vielfältig wie das Leben selbst. Im einen Moment dreht sich die Unterhaltung ums Stricken, im anderen um das Schweigen vieler Männer zu dem im Krieg Erlebten. Von Klichs Anekdote vom bücherlosen und deshalb für die Lesefreundin schlimmen Südfrankreich-Urlaub kommt das Gespräch auf die französische Sprache. Dann wieder geht es ums Zu-Fuß-Gehen: „Sie sind ein Zugvogel, gell Frau Hammer“, wendet sich Klich an die 96-Jährige, die täglich einen ordentlichen Spaziergang macht und alle in der Runde mit einem herzlichen „grüß Gott, Frau Nachbarin“ begrüßt.
Sich überschneidende Lebenslinien
Sie haben es allgemein nett miteinander, die Wohnzimmer-Damen, aber manche verbindet auch mehr als das Nikolaus-Cusanus-Haus: „Ich habe hier eine Frau getroffen, die bei derselben Obermeisterin Prüfung gemacht hat“, erzählt Anni Norz. Sie ist gelernte Schneiderin, „aber jetzt kann ich nicht mal mehr Nadel und Faden halten“, sagt die 95-Jährige und deutet auf ihren Arm, der ihr starke Schmerzen bereitet. Schmerzhaft ist für sie aber sichtlich auch etwas anderes: das Heimweh. Weil ihre Söhne hier leben, ist die Allgäuerin nun im Nikolaus-Cusanus-Haus. Und obwohl sie es genießt, jeden Tag Besuch zu bekommen – „nimmer daheim“ zu sein, fällt ihr doch schwer.
Da hilft es, dass sich manche Lebenslinie gekreuzt hat. Das weiß und nutzt auch Sigrid Klich: „Frau Manz, sie kommen doch auch aus dem Allgäu?“, fragt sie Norz’ Tischnachbarin. „Nein, ich bin von hier, ich war nur im Krieg im Allgäu“, antwortet diese – und taucht ab in die Erinnerung, wie sie als junges Mädchen durchgebrannte Pferde eingefangen hatte. „Das war wunderbar, wie das Pferd auf mich zu galoppierte “, sagt Christa Manz. Fast ist es, als spiegle sich die Szene in ihren Augen – während am anderen Tischende die Erinnerung an Pommern aufsteigt, wo drei junge Mädchen vor den vorrückenden russischen Truppen versteckt wurden.
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