Das Unbehagen am global praktizierten Gewinnstreben, am Gesetz des „Immer mehr“ wächst. Die Marktwirtschaft hat zweifellos ein Imageproblem, verkauft sich aber unverdrossen als Naturgesetz. Das ist ein Irrglaube, der uns immer mehr kosten wird.

Stuttgart - Die dramatischen Folgen der Finanz- und Kapitalmarktkrise von 2008 sind noch nicht bewältigt, die nächste bahnt sich womöglich schon an. Das Unbehagen am global dominierenden Wirtschaftssystem wächst. In zwei Debattenbeiträgen liefern wir ein streitbares Pro und Kontra zum Kapitalismus. Markus Reiter hat unter dem Titel „Kapitalismus? Was denn sonst“ ein engagiertes Plädoyer dafür gehalten. Seine These: zwar schafft der Kapitalismus weltweit große Probleme. Alle alternativen Wirtschaftsmodelle, insbesondere Sozialismus und Kommunismus, führen aber zu Katastrophen historischen Ausmaßes, weil sie die menschliche Grundnatur des Gewinnstrebens konsequent mit Gewalt unterdrücken müssen. Deswegen muss die Politik die Schäden und Gefahren des Kapitalismus zwar wirksam bekämpfen – aber nur innerhalb seiner Regeln. Darauf antwortet nun heute die Gegenseite mit einem Kontra.

 

Erinnert sich noch jemand an die Zelte von „Occupy Wall Street“? An die Schilder mit dem „Wir sind die 99 Prozent“-Slogan? Hat irgendjemand das „Schulden“-Buch von David Graeber zuende gelesen oder gar die siebenhundert Seiten des neuen „Kapital“-Wälzers von Thomas Piketty? Interessiert sich noch jemand ernsthaft, was nach dem Herbst 2008 aus all den Regulierungs- und Reformversprechen der Politik nach der schwersten Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg geworden ist?

Die Antwort ist wahrscheinlich ein verdruckstes „Nö“. Selbst wenn Kapitalismuskritik wieder mal en vogue ist, es scheint nie zu mehr zu reichen, als die eine oder andere mediale Erregungswelle in Gang zu setzen. Und dann verläuft sehr bald alles wieder im Sand. Der Zyniker würde sagen: das Unwohlsein am Ökonomischen ist nur eine der zahllosen Nachfrage-Kategorien auf dem globalen Markt – „Gesellschaftskritik? Zweites Regal, unten links!“ –, und dieses Unwohlsein wird von den Kapitalismuskritikern in Talkshows, auf Kirchentagen und per Amazon-Lieferung befriedigt.

Für seine Verteidiger beweist der Kapitalismus damit nur, wie „ideologieneutral“ – will heißen: überlegen – er ist. Der Markt sei so tolerant, dass er sogar seinen Kritikern Vertriebskanäle zur Verfügung stellt. Wen so viel Freundlichkeit nicht überzeugt, für den holen die Marktapologeten dann die bisher bekannten ökonomischen Alternativen aus dem Fundus: Sklaverei, Feudalismus, Sozialismus. Und schon verstummen wir angesichts so viel historischer Evidenz für die Überlegenheit unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Ja, ein bisschen muss man sicher verändern am Kapitalismus, aber im Grunde sei er alternativlos, weil er der gierigen Natur des Menschen am besten entspreche und mit ihr wenigstens noch produktiv umzugehen verstehe.

Kapitalismus braucht mehr Wirtschaftswachstum

An dieser Stelle könnte die Debatte dann enden. Wird sie aber nicht, denn: die kapitalistische Wundermaschine hat inzwischen mit einigen sehr unangenehmen Problemen zu kämpfen – und keineswegs nur mit dem Liebesentzug durch ansonsten saturierte Bildungsbürger. Und diese unangenehmen Probleme lassen sich auch nicht durch moralinsaure Wertedebatten oder die Geißelung einiger gieriger Manager oder Steuersünder lösen. So billig kommen wir leider nicht mehr davon.

Aber der Reihe nach. Hier eines unserer gegenwärtigen Hauptprobleme im Kapitalismus: Wenn er künftig einigermaßen zuverlässig funktionieren soll, brauchen wir mehr Wirtschaftswachstum. Dringend. Vielleicht nicht wir persönlich und sehr wahrscheinlich auch nicht unser Planet. Aber so gut wie jedes andere Bausteinchen unserer Wirtschaftsordnung basiert darauf, dass der zu verteilende Kuchen morgen größer ausfällt als heute. Damit Schulden bedient und Zinsen gezahlt werden können, damit Arbeitslose wieder eine Stelle finden, damit Sozialsysteme finanzierbar bleiben.

Fast alle – egal in welchem Land und unter welchem politischen Fähnchen – setzen darauf, dass das reale Bruttoinlandsprodukt doch bitte, bitte zunehme; am besten mindestens so lange, bis Außerirdische den Planeten übernehmen. Leider aber klappt das mit dem Wachstum immer seltener. Das hat zum einen mit der demografischen Entwicklung in den Industriestaaten zu tun, zum anderen mit einem augenscheinlichen Mangel an Investitionsmöglichkeiten, oder besser: an Investitionswillen. Fast verzweifelt pumpen die Zentralbanken billiges Geld in die Wirtschaft, auf dass der Gaul doch wieder saufen (sprich: investieren) möge. Aber, nein, der will sich nicht mehr bewegen. Die Rede von der „säkularen Stagnation” macht unter Ökonomen wieder die Runde, ein Zustand, bei dem selbst Null-Zinsen noch zu hoch sind, um die Wirtschaft anzukurbeln. Falls die These von der säkularen Stagnation stimmen sollte, wären die Konsequenzen gravierend. Wer Geld zurücklegt, müsste dann nicht mit Zinsen belohnt, sondern sogar bestraft werden. Und das wäre nur eine der möglichen Leiden für uns Durchschnitts-Kapitalisten beim „sanften Tod des Rentiers“, wie ihn einst der britische Ökonom John Maynard Keynes erwartete.

Ein ketzerischer Gedanke für Kapitalismus-Fans. Aber es kommt schlimmer. Hinter dem mangelhaften Wachstum lauert eine noch abscheulichere Vorstellung. Könnte es sein, dass den modernen Volkswirtschaften längst die Knappheit abhanden kommt, gerade weil der Kapitalismus so erfolgreich ist? Das Bild, dass jeder Mensch nach dem Besitz und Genuss jener für ihn knappen Güter strebt, die ihm von Nutzen sind und die sein Wohlbefinden positiv beeinflussen, gehört zu den Grundlagen der Volkswirtschaftslehre. Die alle antreibende Angst, das man nicht automatisch hat, was man unbedingt braucht, ist im Bilderschatz der Volkswirtschaft die ältere und strengere Schwester des „ewigen Gewinnstrebens“, sozusagen die Peitsche im Kapitalismus. Selbst, wenn wir ertrinken in Gütern, die keiner wirklich braucht, und in Deutschland jedes Jahr elf Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll landen, beherrscht sie uns. Wir wissen eben: Hunger tötet schneller als Fettleibigkeit.

Deshalb interpretieren wir die eigentlich zu beobachtende Lösung des Knappheitsproblems lieber als Krise, als Absatzkrise zum Beispiel. Wir mögen die ökonomische Knappheit, dieses kostbare Disziplinierungsmittel, nicht aus der Hand geben. Denn es ist eben in der Regel gerade nicht die menschliche Gier, die sich der Kapitalismus nutzbar macht, damit unsere Wohnungen und Büros geputzt, unsere Alten gepflegt, unsere Handys zusammengeschraubt werden, sondern es ist der Mangel, den andere noch haben und der sie für uns dienstbar werden lässt.

Leistungsgerechtigkeit entpuppt sich als Marketing-Gag

Deshalb machen wir auch lieber aus einem systemischen Problem ein moralisches. Wir drängeln Arbeitslose, damit sie möglichst schnell wieder „auf eigenen Füßen“ stehen. Oder wir fordern mehr Wettbewerbsfähigkeit von Krisenländern, als ob wir tatsächlich wünschten, dass sie uns einholen auf dem globalen Markt. Richtig albern wird es aber, wenn in der Not des Überflusses dann von „Zukunftsmärkten“ schwadroniert wird. Als ob eine Volkswirtschaft von 80 Millionen Menschen nur auf Nanotechnologie, Green-Tech und Altenpflege setzen müsste, um die Effizienzgewinne in anderen Branchen auszugleichen, während der Rest der Welt verzweifelt versucht, just das Gleiche zu tun.

An dieser Stelle müsste es jetzt zumindest von einer qualifizierten Mehrheit der Menschen Widerspruch geben, denn für die meisten von uns ist ökonomische Knappheit immer noch ein reales Problem und weit davon entfernt, gelöst zu sein. Was uns zum gegenwärtig am meisten diskutierten Schwachpunkt des Kapitalismus bringt: zur Verteilungsfrage. In Talkshows wird diese meist auf Managergehälter oder steuerflüchtige Millionäre oder irgendeine teuflische Ausgeburt des „Casino-Kapitalismus“ reduziert.

Tatsächlich stellt sich die Verteilungsfrage im Kapitalismus viel fundamentaler, und das nicht erst seit Papst Franziskus oder dem Bestseller-Ökonom Piketty. Die angebliche Leistungsgerechtigkeit im Kapitalismus entpuppt sich nämlich bei genauerem Hinsehen als Marketing-Gag. Die Idee, dass sich das Verteilungsergebnis quasi mit naturgesetzlicher Notwendigkeit „auf dem Markt“ ergibt, ausgehandelt zwischen vielen freien und souveränen Individuen auf Augenhöhe, ist als theoretischer Humbug enttarnt. Und dem Kapital selbst – jener seltsam amorphen Verfügungsmasse, von der kaum einer sagen kann, aus was sie besteht – nimmt man die Fruchtbarkeit nicht mehr wirklich ab. Da hilft es dann auch wenig, wenn man in Deutschland das Label „soziale Marktwirtschaft“ drüberkleistert. Die Legitimationslücke bleibt.

Das Stabilste am Kapitalismus ist im Moment tatsächlich der schlechte Ruf seiner Alternativen und die Bequemlichkeit der skeptischen Mehrheit. Ansonsten rätseln wir, wie es mit diesem „notwendigen Übel“ weitergehen könnte: über Wachstum, das wir nicht haben, aber brauchen, uns jedoch ökologisch nicht leisten können. Über Knappheit, die wir nicht haben müssten, aber brauchen, jedoch nicht bei allen. Und über die Legitimation eines Verteilungsergebnisses, das immer weniger begreifen und noch weniger gerecht finden. „Natürlich“ ist an alledem nichts.

Im Moment scheint der Kapitalismus noch irgendwie alternativlos. Vor dreihundert Jahren haben das Menschen übrigens auch von einem anderem Wirtschaftssystem behauptet. Von der Sklaverei.

Der Autor Axel Reimann

Axel Reimann Foto: privat

Autor Axel Reimann, Jahrgang 1970, ist im Enzkreis aufgewachsen und hat Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Tübingen und Tufts/Medford, einem Vorort von Boston in den USA, studiert. Er arbeitete als Wirtschaftsredakteur bei der Wochenzeitung „Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt“, beim Monatsmagazin „Chrismon“ und bei der „Financial Times Deutschland“. Inzwischen lebt und arbeitet er als freier Publizist in Hamburg.

Buch Zuletzt ist von ihm ein Buch erschienen, das in humorvoller Weise die Glaubensdogmen der Marktwirtschaft aufdecken und entlarven will: Rindvieh-Ökonomie. Warum wir den Glauben an die Wirtschaft verlieren, Gütersloher Verlagshaus. 192 Seiten, 19,99 Euro.

Debatte Die Fragen unseres „Pro und Kontras“ greifen wir in loser Folge weiter auf.